Jerusalem

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Sonntag, 27. Dezember 2015

Das Rätsel Trojas und die Buchstabensuppe der akademischen Lehre

Warum wir im Wüstensand nach Tonscherben graben


Angeregt von einem langen Gespräch mit Michael Köhlmeier über die Odyssee als möglicherweise ersten modernen Romanentwurf, habe ich mich im Verlauf des vergangenen Jahres in die Thematik des Trojanischen Krieges, die umstrittene Autorschaft Homers und den akademischen Streit um die geographische Lage Trojas sowie die wirtschaftliche und militärische Bedeutung der antiken Stadt eingelesen. Die unvermeidliche Begegnung mit dem akademischen Betrieb in Deutschland, den ich mit dem Verlassen der Universität endgültig hinter mir gelassen zu haben glaubte, hat mir schmerzlich vor Augen geführt, dass viele seiner Protagonisten auch in Zeiten fortgeschrittener Vernetzung immer noch die bequeme Isolation althergebrachter Methodik und jahrhundertealter wissenschaftlicher Tradition bevorzugen, anstatt die unbegrenzten Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit zu erkunden, die der technische Fortschritt und die Spezialisierung vieler Forschungsbereiche möglich gemacht haben: ein wachsamer Blick über den Tellerrand der akademischen Buchstabensuppe scheint vielen Altphilologen und klassischen Archäologen immer noch undenkbar.

Homer

Besonders deutlich wird das im unversöhnlich geführten Streit zwischen dem langjährigen Grabungsleiter in Troja, Manfred Korfmann (1942-2005), und dem Geoarchäologen Eberhard Zangger (geboren 1958), der Anfang der 1990er mit einer sensationellen Theorie an die Öffentlichkeit trat, die international weitgehend begrüßt und mit großem Interesse diskutiert wurde, in Deutschland aber bis heute vom akademischen Establishment fast einhellig abgelehnt wird. Zangger hatte nicht nur die Hypothese aufgestellt, dass der allgemeine Zusammenbruch der antiken Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten und im östlichen Mittelmeergebiet um das Jahr 1200 v. Chr. in direktem Zusammenhang mit der Vernichtung Trojas gesehen werden müsse, er vertrat auch die Auffassung, dass Troja die führende Macht innerhalb einer Militärkoalition der in ägyptischen Texten mehrfach erwähnten sogenannten „Seevölker“ gewesen sein müsse. Und er setzte noch eine weitere umstrittene Hypothese hinzu: die beiden mystischen Städte Troja und Atlantis seien in Wirklichkeit ein und dieselbe – Plato habe in seinem Bericht über Atlantis unwissentlich eine ägyptische Beschreibung des Untergangs von Troja verzerrt wiedergegeben. Zangger zog sich Ende der 1990er Jahre aus der Forschung zurück, während Korfmann bei seinen weiteren Ausgrabungen nach und nach immer mehr Hinweise fand, die die unbequemen Theorien seines langjährigen Gegners zu unterstützen schienen und nun den geläuterten Chefausgräber selbst zum Ziel bösartiger Angriffe seiner eigenen Zunft machten.

Die Ilias, der große Gesang über den Kampf um Troja, wurde nach Meinung der Forschung um das Jahr 800 v. Chr. schriftlich fixiert, ob basierend auf der genuinen Autorschaft eines Homer, scheint dabei weniger interessant als die Frage, ob es sich hier wesentlich um Dichtung im modernen Sinne handelt, Fiktion also, oder ob der Sänger reale Personen, Orte und Begebenheiten schildert. Alles, was innerhalb der letzten 150 Jahre zur Auffindung Trojas beigetragen hat (über dessen Lokalität bei Hisarlık an der anatolischen Mittelmeerküste heute kaum noch wissenschaftlicher Dissenz besteht) scheint dabei die revolutionäre Auffassung Heinrich Schliemanns (1822-1890) und seiner Informanten zu stützen, dass es sich wesentlich um reale Ereignisse handelt. Die Erfindung der Schrift und ihre Instrumentalisierung zu politischen und religiösen sowie später zu allgemeinen kulturellen Zwecken war zweifellos ein einschneidendes Ereignis, das unsere Auffassung von der Weitergabe von Wissen fundamental verändert hat. Bis heute ist es vorherrschende Meinung innerhalb der vermeintlich überlegenen westlichen Kultur geblieben, dass Wissen im Grunde nur schriftlich übermittelt werden kann, da mündliche Weitergabe zu unzuverlässig sei.

"Trojanisches Pferd", nach einer Vorlage von Henri-Paul Motte (1846-1922)

Hier lohnt es jedoch, einen Blick auf die sehr viel längere Kontinuität der östlichen Kulturen und ihre bewährte Tradition des klassischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu werfen, das auch heute noch wie vor tausenden von Jahren nahezu unverändert existiert und das etwa in der klassischen Musik Persiens, Zentralasiens oder Indiens ganze Tonleitern, Melodiefolgen und Kompositionen absolut werkgetreu über Jahrhunderte weitergegeben hat. Innerhalb dieses geschlossenen Systems existiert auch Improvisation, in die der Vortragende seine eigenen Auffassungen und Interpretationen einbringen kann, aber das eigentliche Gerüst der jeweiligen Kunstform steht absolut fest, und es gibt auch keinerlei Disput über diese Form: auch mündliche Überlieferung ist – solange diese Tradition gepflegt wird – eine sichere Form der Wissensübermittlung. Es spricht sehr viel dafür – und das ist anders als in Deutschland heute international weitgehend unbestritten –, dass es sich mit der Überlieferung der Ilias ähnlich verhalten haben dürfte, bis um das Jahr 800 v. Chr. ein begabter Autor und Improvisator diese in schriftlicher Form fixiert hat. Man kann die Odyssee mit ihren zahlreichen märchenhaften Handlungszügen im Kontrast zur Ilias deshalb leicht als Dokument einer Zeitenwende betrachten, insofern sie viel deutlicher das Kunstprodukt eines Schriftstellers im heutigen Sinne ist, der ein Werk vollkommen eigenmächtig aus sich selbst heraus erschaffen und vollkommen frei ausgestaltet hat.

Burgmauer von Troja, Hisarlık, Türkei

Aus dieser Perspektive ist es gerade mit unserem umfangreichen Wissen über literarische Fiktion absolut naheliegend, die Ilias als historische Quelle ernst zu nehmen und gleichzeitig den Realitätsgehalt von Platons „literarischem“ Atlantisbericht, der 400 Jahre später entstanden ist – zu einem Zeitpunkt also, von dem wir schon eine herablassende Einstellung des Schriftkundigen gegenüber der mündlichen Überlieferung annehmen dürfen – zu bezweifeln: gerade weil jener in seinen beiden Dialogen Timaios und Kritias immer wieder betont, dass die von ihm im Rahmen seiner dialektischen Abhandlungen skizzierten Ereignisse absolut der Wahrheit entsprechen. Tatsächlich aber dienen sie vor allem seiner Beweisführung. Es gibt außerdem eine Argumentation in seinem Werk, die nicht besonders schlüssig scheint: zum einen behauptet er, dass die griechische Kultur sehr viel älter (und höher entwickelt sei) als die ägyptische, andererseits will er von Atlantis aber ausgerechnet aus schriftlichen Zeugnissen der ägyptischen Kultur erfahren haben, deren Schriftzeichen er gar nicht mächtig gewesen ist. Man darf den Wahrheitsgehalt der Atlantis-Erzählung also getrost als ebenso gering einschätzen wie den der von ihr inspirierten Bildungsutopien der mitteleuropäischen Renaissance sowie ihrer zahlreichen Parodien. Vermutlich deshalb hat Plato den mystischen Kontinent auch jenseits der Straße von Gibraltar angesiedelt, an einem gleichfalls mystischen Ort also, den zu erreichen zu seiner Zeit wohl niemand ernsthaft hoffen durfte. 

Ob hilfreich oder nicht: es ist ein unkonventioneller, aber faszinierender Gedanke, die mit militärischen Gewalt vernichtete Stadt Troja mit der durch Naturkatastrophen untergegangenen Stadt Atlantis gleichzusetzen. Da die klassische Archäologie dazu tendiert, ihr jeweiliges Forschungsobjekt entweder isoliert zu betrachten oder zu überhöhen, war es in höchstem Maße überfällig, Troja auch mit seiner Umgebung in Beziehung zu setzen, anstatt lediglich mit den gegen die Stadt anrennenden Griechen, die die Erinnerung daran auf eine Art bewahrt haben, die uns bis heute elektrisiert. Niemand würde in einem aktuellen politischen Konflikt ernsthaft in Betracht ziehen, einen Staat unabhängig von möglichen Verbündeten oder Konkurrenten in seiner unmittelbaren geographischen Umgebung zu betrachten, besonders dann nicht, wenn es sich um einen Staat im Binnenland handelt. Der Versuch Zanggers, Troja als identisch mit der in hethitischen Texten mehrfach erwähnten Stadt Wilusa und als wichtige Führungsmacht der Seevölker-Koalition anzusehen, ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Sichtweise besäße sogar die Universalität, Kernaussagen einer anderen umstrittene Troja-Hypothese der letzten Jahre in sich zu integrieren, in der der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott (geboren 1964) behauptet, in der hethitischen Ruinenstätte Karatepe in der Südwesttürkei Homers wahren Wirkungsort und gleichzeitig ein ergänzendes Vorbild für seine Troja-Beschreibung erkannt zu haben: dann wäre Homer nicht nur derjenige, der eine bis dahin lediglich mündlich überlieferte Geschichte aufschreibt, sondern sie auch an seiner Wirkungsstätte, die logischerweise nicht mit einem existenten Troja übereinstimmt, mit weiteren Details ausschmückt, die auf die Topographie dieses Ortes zutreffen.

Tonscherbe aus Troja, Hisarlık, Türke

Warum aber streben wir überhaupt danach, eine so weit zurückliegende Vergangenheit bis ins kleinste Detail verstehen zu wollen? Warum verteidigen wir unsere eigenen Theorien bis aufs Blut und wollen sie als einzig gültige Wahrheit allgemein anerkannt und fest im Gedächtnis unserer Kultur verankert sehen? Die Vergangenheit ist die einzige Zeitspanne, über die wir fälschlicherweise bestimmen zu können glauben, weil sie bereits unwiderruflich abgeschlossen ist. Durch Theorien und Hypothesen glauben wir sie sogar, noch endgültiger gestalten zu können, obwohl wir gerade bei einer so weit zurückliegenden Vergangenheit wie jener der mythischen Stadt Troja eigentlich anerkennen müssten, dass die Fähigkeiten des menschlichen Geistes zu beschränkt sind, sie endgültig zu durchdringen und wahrheitsgemäß wiederzugeben. Selbst unsere eigene Vergangenheit, unsere ganz persönlichen Leidenschaften und Bindungen vermögen wir nicht angemessen wiederzugeben, weder mündlich noch schriftlich – vielleicht sogar am wenigsten in schriftlicher Form. Mit diesem Dilemma müssen wir leben. Es ist der Grund, warum wir in der Erde nach Scherben graben: weil wir glauben, dort den funkelnden Schatz einer allgemeingültige Wahrheit zu finden, die wir im Alltag nicht zu suchen wagen.


Montag, 7. Dezember 2015

Einfalt statt Vielfalt

Zum nachlassenden Leserinteresse an hebräischer Literatur in deutscher Übersetzung 

 

Nachdem israelische Literatur im deutschen Sprachraum über einen bemerkenswerten Zeitraum von fast einem Vierteljahrhundert aufgrund zahlreicher Übersetzungen aus dem Hebräischen mit Autoren wie Amos Oz, David Grossman oder Zeruya Shalev nicht nur in den Medien ausgesprochen präsent war, sondern vom Publikum auch viel gekauft (und vermutlich gelesen) wurde, haben die deutschsprachigen Verlage nun schon seit Jahren ein stetig nachlassendes Interesse an zeitgenössischer Literatur aus Israel zu beklagen. Die mittlerweile weit hinter den Erwartungen der Verlage zurückbleibende Nachfrage der Leserschaft scheint sich dabei allerdings nicht mit dem anhaltenden wohlwollenden Interesse der deutschen Literaturkritik zu decken: auch heute noch finden wir ebenso in den Printmedien wie in Funk und Fernsehen immer noch zahlreiche leidenschaftliche und zum Teil sehr fundierte Beiträge über israelische Literatur. Wie kommt es also, dass die Verlage die kostenlose Publicity der Medien augenscheinlich nicht mehr unmittelbar in zählbaren Buchumsatz verwandeln können?

Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass die Rezeption von Literatur in Deutschland allgemein demokratischer geworden ist. Während sich die klassischen Medien unter dem Kostendruck dramatisch schrumpfender Umsätze und der ungeliebten Maßgabe ihrer Finanzabteilungen zunehmend auf allgemein anerkannte, schematisch vordefinierte Zielgruppen zurückziehen und mit dem allgemeinen Anspruch auch ihre Attraktivität immer weiter sinkt, nimmt die Nutzung unabhängiger, zum Teil hochgradig spezialisierter Blogs und weiterer kostenloser Angebote im Internet weiter zu. Die klassische Literaturkritik mit ihren omnipräsenten Protagonisten, die sich als allgemein verbindliches ästhetisches Weltgericht begriffen, gibt es heute nicht mehr. Verzweifelte Versuche des Fernsehens, ein anachronistisches Sendeformat wie „Das literarische Quartett“ wiederzubeleben, das schon zu Lebzeiten seiner bekanntesten Protagonisten vor allem von deren subjektivem Unterhaltungswert lebte, (ihrem kaum gebremsten Willen auch, ein literarisches Werk oder einen Autor zu ihren eigenen Gunsten bewusst zu vernichten oder zu überhöhen,) müssen deshalb zwangsläufig scheitern, solange die Fernsehsender zu Recht davor zurückschrecken, die Literatur wieder zum dankbaren Objekt arroganter Selbstdarstellung zu degradieren.


Amos Oz mit seiner Übersetzerin Mirjam Pressler/Foto: Wikimedia


Die Zuschauer indessen scheinen nach wie vor jene plakativen polarisierenden Ansätze zu honorieren, die der Literatur naturgemäß niemals gerecht zu werden vermögen: anders lässt es sich kaum erklären, warum eine Sendung, in der der wohlgenährte Rezensent Bücher über eine Rutsche spektakulär in den Müll befördert, heute immerhin noch das erfolgreichste Format unter zahlreichen nach dem üblichen System der Einschaltquote kaum messbaren Beiträgen ist. Ein subjektives Urteil von Marcel Reich-Ranicki wurde noch vor zwanzig Jahren von vielen Zuschauern als allgemein verbindlich hingenommen und löste in nicht wenigen von ihnen einen direkten Kaufimpuls aus. Heute versuchen sich die meisten Literaturkritiker einem Buch auf sehr viel objektivere und sensiblere Art und Weise zu nähern, indem sie das jeweilige Werk in viel stärkerem Maße als individuelle künstlerische Ausdrucksform seines Schöpfers beurteilen und auch die Intentionen des Autors und den Entstehungsprozess des Buches in seinem Gesamtzusammenhang sowie seine mögliche Relevanz für den gesellschaftlichen Diskurs zu berücksichtigen versuchen. Das mag auf den ersten Blick weniger unterhaltsam scheinen, ist aber für den Literaturliebhaber ohne Zweifel eine kapitale Errungenschaft, selbst wenn man sich vor Augen führt, dass Literaturrezeption immer auch einem starken subjektiven Impuls zugrunde liegen muss.

Doch zurück zur israelischen Literatur in deutscher Übersetzung. Israelische Literatur muss, sofern sie die innerhalb der israelischen Gesellschaft ablaufenden Prozesse einigermaßen angemessen widerzuspiegeln vermag, den deutschen Leser aus zwei wichtigen Gründen auf ganz unmittelbare und deutlich nachvollziehbare Art und Weise bewegen. Zum einen wirkt sich bekanntermaßen die Katastrophe der Schoah als tragische Klimax einer langen gemeinsamen Geschichte sowohl in psychologischer als auch in soziologischer Hinsicht deutlich messbar auf alle seither lebenden Generationen in Israel wie in Deutschland aus. Als kleines, besonders prägnantes Beispiel sei nur das Schweigen der Täter-/Opfer-Generation genannt, das hier wie dort gleichermaßen wirksam war und ist. Zum anderen wird in Israel bereits seit Jahrzehnten ein Konflikt ausgetragen, der sich direkt aus dem fundamentalen Überlegenheitsgefühl des europäischen Kolonialismus gegenüber einer vermeintlich unterentwickelten Umwelt speist, dessen nahezu ungelöst ins 21. Jahrhunderte übernommene Auswirkungen wir aber hierzulande in ihrer ganzen Tragweite möglicherweise erst jetzt zu verstehen (und hoffentlich anzunehmen) beginnen scheinen, da der aus ihnen entstandene Terrorismus seine Herkunftsregion verlässt und wir auch hier mit Selbstmordattentaten konfrontiert sind.


Büchertisch mit Werken von Lizzie Doron/Foto: Stefan Röhl

Dass israelische Literatur überhaupt über einen so langen Zeitraum auf dem deutschen Buchmarkt so weit verbreitet war, hatte aber noch einen weiteren gewichtigen Grund, den man mit einiger Berechtigung als wichtigste Vorbedingung für diesen langanhaltenden Erfolg diagnostizieren muss: Israel unterhält zur Förderung seiner Literatur in Gestalt des sogenannten Institute for the Translation of Hebrew Literature ein vergleichsweise hoch entwickeltes staatliches Förderungssystem. Um die Übersetzung israelischer Schriftsteller in andere Sprachen wirksam zu unterstützen wird diese in aller Regel zunächst vom israelischen Staat subventioniert. Erst nach erfolgter Finanzierung der Übersetzung (und nicht wie sonst üblich davor) wird die Lizenz an einen möglichen Interessenten im Ausland verkauft, so dass der größte übliche Kostenfaktor für einen Verlag und das bedeutendste verlegerische Wagnis zunächst einmal ausgesetzt werden. Was nun auf den ersten Blick wie ein absoluter Glücksfall für die israelische Literatur erscheint, müssen wir auf lange Sicht jedoch als möglicherweise entscheidendes Hemmnis für eine wirklich anhaltende realistische Rezeption israelischer Literatur im Ausland betrachten, denn die politisch motivierte Vergabepraxis der Fördermittel hat sich über die Zeit als durchaus tendenziös im Sinne einer inhaltlichen Vorzensur erwiesen.

Wer in den letzten fünfundzwanzig Jahren also israelische Literatur gelesen hat, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass er dies unwissentlich (und vermutlich ohne es zu wollen) auch auf Kosten einer politisch unabhängigen Literatur getan hat, die in Israel sehr wohl gelesen und weithin diskutiert wird, aber sich nach offiziellem politischen Willen offenbar nicht auf das Israelbild von Außen auswirken soll. Nun ist die israelische Literatur ohne Zweifel reich genug, um den skizzierten Mangel über einen gewissen Zeitraum zu überbrücken, zumal allgemeine literarische Themenkreise, die wesentliche Kernaussagen des Zionismus nicht weiter in Frage stellen, sowie eine hoch entwickelte Literaturlandschaft, die sich mit den Nachwirkungen der Schoah befasst, bereits ein dankbares Spektrum abdecken, das dem interessierten Leser in Deutschland, Österreich oder der Schweiz viel über die israelische Lebenswirklichkeit sowie Unterschiede zu und Gemeinsamkeiten mit seiner eigenen aufzuzeigen vermag. Jeder erfahrener Leser israelischer Literatur wird sich jedoch auf lange Sicht mindestens einmal die Frage gestellt haben, warum er jene andere Lebenswirklichkeit im Jüdischen Staat, wie sie uns tagtäglich in den Fernsehnachrichten begegnet, in den Werken, die ihm in deutscher Übersetzung angeboten werden, so gut wie nicht widergespiegelt findet.



Eshkol Nevo, Arne Schneider, Arye Sharuz Shalicar/Foto: Stefan Röhl

Wir sehen uns also seit Jahrzehnten mit der außergewöhnlichen, nicht wenig absurden Situation konfrontiert, dass der deutschsprachige Leser gerne mittels unabhängiger Literatur etwas über die Befindlichkeiten Israels erfahren möchte, aber über einen vergleichsweise langen Zeitraum vom Institute for the Translation of Hebrew Literature lediglich ein oberflächliches zionistisches Standardprogramm angeboten bekommen hat, das sein berechtigtes Interesse an politisch unabhängigen literarischen Sichtweisen auf mittelfristige Sicht nicht zu befriedigen vermochte. Dieses beklagenswerte Dilemma vermag die bestehende Praxis staatlich subventionierter Übersetzungen nicht aufzulösen. Wir müssen im Gegenteil davon ausgehen, dass im bewusst aufrecht erhaltenen Schatten staatlicher israelischer Literaturförderung eine Fülle guter, aufschlussreicher, zum Teil subversiver Literatur schlummert, die unter den gegebenen Umständen für den deutschsprachigen Leser bis auf wenige Ausnahmen vermutlich niemals gehoben werden wird.

Die deutschsprachigen Verlage haben diese literaturferne Praxis in Kauf genommen und den Leser auf diese Weise derart unterfordert, dass sein Interesse an israelischer Literatur zwangsläufig erlahmen musste, weil er unter diesem unvollständig-parteiischen Eindruck fälschlicherweise glauben muss, sie habe ihm nichts zu bieten. Leider machen die Medien und das hiesige Kulturestablishment unwissentlich gemeinsame Sache mit dem israelischen Literaturförderungssystem: so werden Werke von mediokren israelischen Autoren mit tadellosem zionistischen Leumund in Unkenntnis ihrer nicht übersetzten Kollegen regelmäßig als bedeutende Schriftsteller gepriesen und wieder andere, die aufgrund ihrer Aussagen auch für den nicht allzu kritischen Betrachter leicht dem linkskonservativen zionistischen Spektrum zuzuordnen sind, gelten vollkommen zu Unrecht als Aushängeschilder der israelischen Friedensbewegung. Das nachlassende Interesse deutschsprachiger Leser an israelischer Literatur ist angesichts der oben dargelegten Gründe also alles andere als verwunderlich, sondern muss als geradezu zwangsläufiger Prozess enttäuschter Erwartungen betrachtet werden. Dass diese Entwicklung zu Unrecht auch aktuelle Werke betrifft, die man schon allein aus objektiven literarischen Gründen als Bereicherung für den deutschen Buchmarkt beurteilen muss, ist ein unangenehmer Nebeneffekt, den die betroffenen Verlage zumindest vorübergehend hinnehmen müssen. 


Israelisches Literaturmagazin "Biglal"

Das scheinbar nachlassende Interesse der allgemeinen Leserschaft an israelischer Literatur sollte Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz jedoch nicht dazu bewegen, weniger Übersetzungen aus dem Hebräischen zu veröffentlichen, sondern allenfalls besser zu prüfen zu versuchen, was das jeweilige herauszugebende Werk dem potentiellen Leser zu sagen vermag, ohne dabei auf das erstbeste Angebot des Institute for the Translation of Hebrew Literature hereinfallen zu müssen – schließlich wird im Umkehrschluss ein israelischer Leser ebenfalls wenig daran interessiert sein, die Lieblingsautoren von Angela Merkel oder Sigmar Gabriel in hebräischer Übersetzung zu lesen. Letztlich kann es für deutschsprachige Verlage in der Frage israelischer Literatur jenseits naheliegender wirtschaftlicher Erwägungen ohnehin nur eine einzige Maßgabe geben, die überdies auch für die Literaturen aller anderen Sprachen zur Anwendung kommt: die Erschließung guter Literatur ist immer ein Wagnis, für dessen Gelingen es keinerlei Garantie geben kann. Gerade das macht die Herausgeberschaft auf einem offenen Markt so spannend – letztlich auch für den Leser.


Freitag, 4. Dezember 2015

„Böse Absichten“ von Keigo Higashino

Es gibt derzeit international kaum einen originelleren Krimiautoren als den Japaner Keigo Higashino, dem es mit jedem einzelnen seiner Romane immer wieder aufs Neue gelingt, den eng gesetzten Grenzen des klassischen Kriminalromans scheinbar mühelos ganz neue Seiten und überraschende Perspektiven hinzuzufügen, weil er sich anders als viele seiner erfolgreichen Kollegen offensichtlich nicht damit zufrieden gibt, lediglich die immer wieder gleiche Geschichte unter leicht veränderten Vorzeichen, mit neuem Personal oder anderen Mitteln neu zu erzählen, sondern den bemerkenswerten Ehrgeiz besitzt, den Rahmen des erzählerisch Möglichen für sich ständig spielerisch zu erweitern. Zu Rühmen sind besonders sein beeindruckendes psychologisches Gespür für die „ganz normalen“ Abgründe der fragilen menschlichen Seele, die er in seinen außergewöhnlichen Plots stets mit außergewöhnlicher Empathie virtuos auslotet. Die beiden bisher erschienenen weithin gelobten Bände um den genialistischen Physik-Professor Yukawa, der mit seinem außergewöhnlichen Sinn für Logik im Auftrag seines ratlosen Freundes Kusanagi von der Tokioter Kriminalpolizei in Sherlock-Holmes-Manier die kompliziertesten Fälle löst, gehören zum absolut besten, was das Genre aktuell zu bieten hat. Besonders reizvoll dabei ist der ebenso kluge wie schöne Kunstgriff des Autors, den Leser dabei ganz gezielt auch emotional für den jeweiligen Mörder und seine im Grunde edlen Motive einzunehmen und ihn auf diese Weise bis zum überraschenden Schluss von ganzem Herzen mitleiden und hoffen zu lassen, dass der „unschuldig“ schuldig Gewordene vom sanften Geistesriesen Yukawa nicht enttarnt wird. Und letzterem geht es mitunter genau so.






Mit dem in etwas bescheidenerer Ausstattung lediglich als Softback erschienenen Band „Böse Absichten“ startet der Klett-Cotta-Verlag nun eine zweite auch international erfolgreiche Krimireihe des japanischen Bestsellerautors um den wortkargen Polizeikommissar und ehemaligen Gymnasiallehrer Kyochiro Kaga, die kaum weniger vielversprechend beginnt als die viel gelobten Yukawa-Bände, und die folgerichtig schon im nächsten Frühjahr mit dem bereits angekündigten Titel „Ich habe ihn getötet“ fortgesetzt werden soll. Dabei fällt es ausgesprochen schwer, viel schwerer als bei allen anderen bisher auf Deutsch erschienenen Romanen von Keiga Higashino, den Inhalt seines Buches einigermaßen vollständig zusammenzufassen, ohne dem Leser dabei schon vorab die Spannung an der geistreich-kurzweiligen Lektüre zu nehmen. Im Auftaktkapitel des Buches beschreibt der mäßig erfolgreiche Kinderbuchautor Osamu Nonoguchi im Stile einer persönlichen Chronik, wie er selbst gemeinsam mit der jungen Ehefrau seines ehemaligen Schulkameraden und langjährigen Freundes Kunihiko Nidaka am Vorabend des lange geplanten Aufbruchs des gefeierten Literaten und Bestsellerautors zu einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt nach Kanada dessen Leichnam in der bis auf das Arbeitszimmer bereits leergeräumten gemeinsamen Wohnung des Ehepaars aufgefunden hat. Der Erfolgsschriftsteller ist offensichtlich mit einem stumpfen Gegenstand von einem möglicherweise durch das offene Fenster eingedrungenen Unbekannten erschlagen worden.


Es geschah am 16. April, es war ein Dienstag.
Um halb vier Uhr nachmittags verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zu Kunihiko Hidaka, der nur eine Haltestelle mit der Bahn entfernt wohnte. Von dort muss man zwar noch kurz mit dem Bus fahren, dennoch braucht man, wenn man den Fußweg hinzuzählt, alles in allem nur etwa zwanzig Minuten.
Für gewöhnlich besuchte ich Hidaka auch häufig ohne besonderen Grund, aber an diesem Tag hatte ich einen. Es war die letzte Gelegenheit, ihn zu sehen, bevor dies für längere Zeit nicht mehr möglich sein würde.

Nonoguchis vollständige, überzeugend klingende Beschreibung der tragischen Ereignisse legt ganz nebenbei nahe, dass sein erfolgsverwöhnter Freund möglicherweise ein der Öffentlichkeit unbekanntes dunkles, gewalttätiges Geheimnis aus Schultagen besessen habe. Es habe seinerzeit nicht nur den beklagenswerten Fall eines gleichaltrigen Jungen in ihrer gemeinsamen Klasse gegeben, der von einer Schülerclique über Monate hinweg  aufs grausamste gequält und misshandelt wurde, sondern auch einen nie ganz aufgeklärten Vorfall von Beihilfe zur Vergewaltigung einer Mitschülerin. Von diesen beiden Ereignisse handele aus erstaunlich gut unterrichteter Perspektive auch einer von Nidakas frühen Bestsellern. Außerdem habe ihm der Schriftsteller zu seinem nicht geringen Erschrecken am Tag vor seinem Tode mit unverhohlenem Amüsement gestanden, den aufdringlichen kleinen Hund seiner resoluten Nachbarin vergiftet zu haben. Weitere charakterliche Mängel seines Freundes werden von Nonoguchi in durchaus augenfälliger Regelmäßigkeit immer wieder wie beiläufig erwähnt, so dass sich im Leser unwillkürlich ein Bild des Ermordeten als das eines skrupellosen erfolgssüchtigen Egomanen verfestigt, um den es möglicherweise – so der unausgesprochene Subtext – nicht weiter schade sei. Umso überraschter müssen wir am Ende des ersten Buchteils einen radikalen Bruch in der Erzählung des Kinderbuchautors hinnehmen, als dieser von seiner auch für ihn selbst überraschenden Verhaftung als Haupttatverdächtiger berichtet, womit seine Aufzeichnungen abbrechen.


Haus in Tokio/Foto: Japaga


Im zweiten Buchteil berichtet Kommissar Kaga persönlich vom aktuellen Stand seiner polizeilichen Ermittlungen, und nach Prüfung der von ihm ausführlich dargelegten objektiven Fakten müssen wir nun irritiert konstatieren, dass die Festnahme Nonoguchis absolut unvermeidlich war. In dem ein paar Jahre zurückliegenden, offensichtlich fingierten tödlichen Unfall von Nidakas Ex-Frau, die im Geheimen mit dem Verdächtigen liiert war, und einer möglicherweise mehr als zehn Jahre andauernden Ausnutzung von dessen schriftstellerischer Kreativität durch den Ermordeten (so existieren zahlreiche Originalmanuskripte von Nidakas Werken in Nonoguchis Handschrift) liegen gleich zwei überzeugende mögliche Tatmotive vor. Da Kommissar Kaga und Nonoguchi vor vielen Jahren für kurze Zeit an derselben Schule unterrichtet haben, bevor sie sich für andere Berufe entschieden, macht sich der akribische arbeitende Polizist die Ermittlungen jedoch alles andere als leicht, zumal er seinerzeit stets eine gewisse Sympathie für den zurückhaltenden und bescheidenen Kollegen empfunden hatte. Schon bald tauchen jedoch ohne großen Ermittlungsaufwand wie durch Zufall mehrere scheinbar unwiderlegbare Beweise auf, die Nonoguchis Schuld eindeutig zu manifestieren scheinen, zu eindeutig, wie Kommissar Kaga meint. Dass sein Ex-Kollege die Tat begangen hat, steht für ihn außer Frage, mit den von ihm angebotenen Motiven will er sich jedoch nicht zufrieden geben, denn alles, was vertrauenswürdige Zeugen über den ermordeten Kusanagi aussagen, dessen guter künstlerischer Ruf durch die von der Presse genüsslich verbreiteten Plagiatsvorwürfe inzwischen vollkommen zerstört ist, lässt viele der bisherigen Ermittlungsergebnisse zweifelhaft erscheinen.

Warten Sie einen Moment“, sagte ich. „Müssen wir das unbedingt in dieser Form machen?“
Wie meinen Sie das?“
Es wird eine längere Geschichte. Ich würde gern Einiges davon zuvor in meinem Kopf ordnen. Es wäre mir unangenehm, wenn ich beim Erzählen nicht den richtigen Ton treffe.“
Sie bekommen das Protokoll noch einmal zu lesen.“
Ich weiß, aber es liegt mir sehr viel daran. Wenn ich schon gestehe, dann möchte ich es mit meinen eigenen Worten tun.“
Kommissar Kaga schwieg einen Moment.
Das heißt, Sie wollen Ihr Geständnis selbst schreiben?“, fragte er dann.
Wenn Sie erlauben.“
Einverstanden. Wie lange werden Sie brauchen?“
Einen Tag, vermute ich.“
Kommissar Kaga war einen Blick auf seine Uhr. „Gut, dann komme ich morgen Abend wieder“, sagte er und stand auf.

Im weiteren Verlauf des Buches schickt uns der kluge Autor durch ein Wechselbad des Zweifels – auch an uns selbst und unsere Erwartungen an einen Kriminalroman, denn es gelingt Keigo Higashino scheinbar ganz mühelos, mit jedem neuen Kapitel eine weitere überraschende Wendung herbeizuführen und den Leser so ganz nebenbei zu einer umso aufmerksameren, hochkonzentrierten Lektüre zu erziehen, wie er sie lange nicht erlebt haben dürfte. Können wir unserer Wahrnehmung trauen? Wie leicht lassen wir uns nicht nur als Leser, sondern vielleicht auch in unserem privaten Alltag von so unterschiedlichen (und scheinbar gegensätzlichen Motiven) wie Empathie oder rationalen Argumenten täuschen? Durch ein weiteres schriftliches Geständnis über den angeblichen Tathergang wirft der unheilbar an Krebs erkrankte Nonoguchi aus der Untersuchungshaft heraus nur noch mehr Fragen auf, so dass sich der besonnene Kommissar gezwungen sieht, auch gegen den Willen seines Vorgesetzten noch tiefer in die Vergangenheit der beiden Schriftsteller einzudringen. Kann am Ende auch ein scheinbar belangloser, aus unbeteiligter Perspektive vollkommen irrational scheinender Grund das überzeugendste Tatmotiv sein? Keigo Higashino zeigt sich in seinem ersten Kommissar-Kaga-Roman auch formal noch experimentierfreudiger als wir es aus seinen bisher auf deutsch erschienenen Büchern gewohnt sind. Ganz nebenbei erfahren wir dadurch noch unmittelbarer, was polizeiliche Ermittlungsarbeit bedeutet, denn bevor uns der ermittelnde Kommissar am Ende seine überraschende Schlussfolgerung präsentiert, dürfen wir eine ganze Reihe wichtiger Zeugenaussagen ganz ungefiltert gleichsam wie aus der Ermittlungsakte heraus studieren.

Keigo Higashino

Anders als in den zu Recht gelobten und auch im deutschen Sprachraum kommerziell erfolgreichen Professor-Yukawa-Bänden, in denen unsere ganze Sympathie letztlich den „unschuldigen“ Mördern gehört (sowie den Personen, die sie durch ihre Tat schützen), dürfte in diesem ersten auf Deutsch erschienenen Kaga-Roman wohl niemand ernsthaft Mitleid mit dem kaltblütig und geradezu antisozial agierenden Täter empfinden. In einem formal bestechenden, unkonventionell erzählten und stets unterhaltsamen Psychokrimi um künstlerische Eitelkeit, unversöhnlichen Neid und blinde Zerstörungswut setzt Keigo Higashino seine sensibel-fundierte literarische Erkundungsreise in die Psychopathologie von Mördern auf bestechende Art und Weise fort. Die im Buch geschilderten Charaktere und sozialen Milieus sind vom Autor gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit mit bemerkenswertem psychologischen Einfühlungsvermögen und sicherem Blick für das individuelle Detail überzeugend ausgestaltet. Durch sein virtuoses literarisches Spiel mit unseren Vorurteilen, emotionalen Reflexen und Erwartungen an das Genre löst Higashino eine latente Verunsicherung im Leser aus, die weit über die Lektüre des Romans hinausreicht und insgesamt ein realistisches Bild unserer umfassenden Machtlosigkeit zeichnet, die wir angesichts von spontaner und systematischer Gewalt in unserem Alltag empfinden müssen. Auf den nächsten, für Ende April 2016 angekündigten Band der Reihe, in dem Kommissar Kaga mit nicht weniger als drei geständigen Tatverdächtigen konfrontiert wird, darf man sich jetzt schon freuen!

„Böse Absichten“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 255 Seiten, € 14,95

Samstag, 28. November 2015

„Die Möglichkeit eines Verbrechens“ von Dror Mishani

„Avi, Avi! Pass auf!“, möchte man im Verlauf der Handlung von Dror Mishanis zweitem Avi-Avraham-Roman dem gutmütigen Protagonisten mit wachsender Ungeduld immer wieder zurufen und ihn dabei kräftig an den Schultern rütteln, „Du tust es schon wieder! Warum begehst du den selben verhängnisvollen Fehler ein zweites Mal?“ – Im ersten überaus originellen Band der klug konstruierten Reihe des Lehrbeauftragten für Kriminalliteratur der Universität Tel-Aviv hatte der erfahrene, stets sorgfältig arbeitende israelische Polizeiinspektor im Verlauf der erfolglosen Suche nach einem von seinen Eltern als vermisst gemeldeten Jugendlichen aus persönlicher Empathie wichtige Spuren nicht weiterverfolgt und den ebenso undurchsichtigen wie tragischen Fall um familiären Missbrauch durch sein ärgerliches Versäumnis nicht nur unnötig in die Länge gezogen, sondern hätte dabei beinahe auch die bürgerliche Existenz eines unschuldigen, aber höchst verdächtigen Lehrers des Verschwundenen vernichtet, auf den er sich als möglichen Täter regelrecht eingeschossen hatte. Für den berufenen Ermittler selbst hatte sein unbegreifliches Versagen auch berufliche Konsequenzen: ein psychologisches Gutachten, Versetzung in den Innendienst sowie den anhaltenden hämischen Spott vieler seiner Kollegen. Einziger persönlicher Lichtblick für den schüchternen Romantiker war eine zarte Romanze mit einer Brüsseler Kollegin während einer gleichsam als Strafe über ihn verhängten Fortbildung in der belgischen Hauptstadt.




Im lange erwarteten und letzten Sommer endlich in deutscher Übersetzung erschienenen zweiten Band der Reihe ist Avi Avraham beruflich weitgehend rehabilitiert und darf ernsthaft hoffen, schon bald wieder seinen ersten eigenen Fall seit seiner Suspendierung zu leiten, während er im Privaten voller Vorfreude dem baldigen Eintreffen seiner belgischen Freundin entgegenfiebert. Die Beziehung der beiden hat sich im Verlauf der letzten Monate durch einen mehrwöchigen Liebesurlaub in Belgien intensiviert, und sie steht kurz davor, ihren Dienst in Brüssel zu quittieren und zu ihm nach Tel Aviv zu ziehen. Eines Morgens wird vor einem kleinen privaten Kindergarten in der schäbigen Vorstadt von Cholon im Bezirk Tel Aviv ein verdächtiger herrenloser Koffer gefunden – Bombenalarm wird ausgelöst und entsprechend der üblichen Mechanismen des tagtäglich von Terrorismus bedrohten jüdischen Staates rückt ein Räumkommando an, evakuiert die Nachbarschaft und die Polizei beginnt zu ermitteln. Als sich nach der kontrollierten Sprengung des Gegenstands herausstellt, dass es sich dabei nicht um eine Kofferbombe handelte, sondern lediglich um eine täuschend echte Attrappe, wird entschieden, dass Avi Avraham den vermeintlich unbedeutenden Fall als persönliche Bewährungsprobe übernehmen darf.

Er räusperte sich und sagte: „Jedes Mal denke ich, es würde anders enden, weißt du? Zu Beginn jeder Ermittlung. Das alles, was war, gelöscht ist. Aber nichts wird gelöscht, alles sammelt sich nur von einem Fall zum nächsten an. Ich war mir sicher, dass es diesmal tatsächlich so war, aber auch bei diesem Fall habe ich es nicht geschafft, irgendjemanden zu retten. Weder sie noch die Jungen und auch mich selbst nicht.“
Sie rückte noch näher an ihn heran. „Avi, ich glaube nicht, dass es möglich ist, Kinder vor ihren Eltern zu retten.“ Sie verstummte und fügte dann hinzu: „Aber vielleicht gelingt es dir eines Tages.“ Er schloss die Augen.

Mit großem, möglicherweise sogar zu großem Engagement stürzt sich der Inspektor in die Ermittlungen. Der monatelange, seinen eigentlichen detektivischen Fähigkeiten nicht im geringsten angemessene Innendienst und die zahlreichen drängenden Fragen, die sich auch für ihn selbst aus seinem unerklärlichen Versagen ergeben haben und eine anhaltende Belastung für seine angeschlagene Psyche darstellen, haben seinen persönlichen Ehrgeiz, sich nicht nur vor seinen Kollegen und Vorgesetzten, sondern vor allem auch vor sich selbst wieder zu beweisen, in unrealistische Höhen geschraubt. Bei ersten Befragungen der Kindergartenleiterin, ihrer Mitarbeiterinnen und weiterer Zeugen, konzentriert er sich bald schon auf Eltern, die bekanntermaßen aus unterschiedlichsten individuellen Gründen mit der Institution in Konflikt stehen. Insbesondere die widersprüchliche Aussage des Betreibers eines kleinen Catering-Service‘, Chaim Sara, der in den frühen Morgenstunden in Tatortnähe gesehen wurde und sich bei verschiedener Gelegenheit in aggressivem Ton mit der Leiterin des Kindergartens über die Erziehung des jüngeren seiner beiden Söhne gestritten hat, lässt einen unbestimmten Verdacht in Avi Avraham aufkeimen, den keiner seiner Kollegen zu teilen scheint, dem er selbst sich aber trotz seiner problematischen Vorgeschichte nicht zu entziehen vermag, so dass er auch gegen den expliziten Wunsch seiner direkten Vorgesetzten unbeirrt weiterermittelt, anstatt routinemäßig einer Spur zu einer ehemaligen Mitarbeiterin des Kindergartens zu folgen, die ihre Stelle erst kürzlich überraschend gekündigt hat.

Cholon, Israel/Foto: Miroslaw Z. Wojalski


Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als der Inspektor auf eigene Faust den von ihm verdächtigten Chaim Sara beschattet, dessen philippinische Ehefrau angeblich auf Urlaub in ihre Heimat geflogen ist, wird die wenig mitteilungsfreudige Leiterin des Kindergartens von Unbekannten tätlich angegriffen und dabei so schwer verletzt, dass sie nach einer langwierigen Notoperation ins Koma fällt, über dessen voraussichtliche Dauer die behandelnden Ärzte keinerlei zuverlässige Aussage zu treffen vermögen. Während Avi im privaten Handlungsstrang des Romans verzweifelt auf eine Nachricht von seiner Freundin wartet, die seit Tagen aus ungeklärtem Grund ihr Handy abgestellt hat und auf seine Festnetz-Anrufe nicht reagiert, scheint alles darauf hinauszulaufen, dass der sensible Ermittler kurz davor steht, auch dieses Mal den neutralen Überblick zu verlieren und seine lang ersehnte Bewährungschance auf spektakuläre Art und Weise zu vermasseln. Als Leser sind wir ihm allerdings aufgrund der Parallelperspektive aus Chaim Saras Sicht ein gutes Stück voraus und können durch diesen cleveren Trick des Autors umso mehr ehrlich empfundene Empathie für den unverstandenen Polizisten in unsere Lektüre einbringen, der bis zum Schluss aus genuinem detektivischem Instinkt auf seinen Anfangsverdacht vertraut und diesmal auf ungeahnte Weise richtig liegt.

Chaim hätte sich die Gesichter seiner Söhne stundenlang anschauen können, aber nicht aus dem Grund, aus dem die meisten Eltern dies taten, so dachte er. Er betrachtete die schmalen Augen, die andersartigen Gesichtszüge und versuchte zu erkennen, worin sich diese von seinen eigenen unterschieden und worin sie ihm doch ähnlich sahen. Von Shalom wurde immer gesagt, er gliche ihm etwas mehr, aber von seinem Charakter kam er eher nach Jenny. Quirlig und eine Plaudertasche. Während hingegen Eser, der Chaim mit seinem ausdauernden Schweigen und seiner Verschlossenheit so sehr an sich selbst erinnerte, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, ja manchmal buchstäblich wie sie aussah. Die Fremdheit in ihren Gesichtern würde ihnen stets anhaften. Er hatte dies vor allem durch die Augen anderer Menschen begriffen. [...] Auch an die Geburt erinnerte er sich. An Jennys Schreie und an seine Sorge, seinem Sohn könne während der Geburt etwas zustoßen. Die Ärztin auf der Entbindungsstation hatte es abgelehnt, Jenny aufzunehmen, auch als diese sagte, sie habe bereits Wehen. Sie wurden gebeten, in ein paar Stunden wiederzukommen, und Chaim war sich sicher gewesen, dass dies nur wegen ihrer Fremdheit geschah. Er hatte aber nicht zu protestieren vermocht und Jenny, die sich vor Schmerzen krümmte, wieder mit nach Hause genommen.

Dror Mishani erweist sich auch in seinem zweiten Roman als überaus versierter, hoch origineller Erzähler. Diesmal droht ihm allerdings mehrmals das im Sinne eines ökonomischen Spannungsbogens notwendige Verhältnis zwischen dem organischen Fortschreiten der Handlung und dem bewusst inszenierten erzählerischen Vorenthalten wichtiger Fakten aus einem für den Leser zumutbaren Gleichgewicht zu geraten. Im Falle von Avi Avrahams detektivischem Streben nach Aufklärung des ihm übertragenen Falles ist dies ohne Zweifel vollkommen legitim: die meisten Kriminalromane funktionieren genau nach diesem Prinzip, dass sämtliche Informationen, Fakten und Indizien vom ermittelnden Detektiv erst über einen bestimmten Zeitraum zu einem vollständigen Gesamtbild zusammengesetzt werden müssen. Dadurch ergibt sich zwangsläufig ein Wissensdefizit, das der Leser mit dem Ermittler teilt. Die von Chaim Sara selbst umrissene alternative Perspektive in Mishanis Roman funktioniert jedoch für den Leser über einen nicht unwesentlichen Teil der Lektüre nur, weil der Verdächtige in seinen inneren Monologen stets nur das ausspricht, was wir als seine Beweggründe im Rahmen seiner psychischen Disposition sowie seinen spezifischen Lebensumständen durchaus billigend nachvollziehen und sogar als logische Konsequenz aus seiner möglichen Tat werten können, wie auch immer diese ausgesehen haben mag; das eigentliche zurückliegende Verbrechen, das er möglicherweise begangen hat, bleibt aber ebenso in Saras erzählerischem Off wie das von Avi fälschlicherweise vermutete zukünftige.


Dror Mishani/Foto: Yanai Yechiel

Auch in seinem zweiten geistreich-spannenden Fall verbeißt sich der wackere Avi Avraham intuitiv in einen höchst subjektiven, auf eine bestimmte Person gerichteten Verdacht, den keiner seiner Kollegen mit ihm teilt. Diesmal allerdings gelingt es ihm mit Hilfe seines kriminalistischen Gespürs, einen Fall zu lösen, den niemand sonst innerhalb der Polizeibehörden überhaupt als möglichen Fall wahrgenommen hatte. Dass der verunsicherte Inspektor allerdings am Ende die meisten Lorbeeren ausgerechnet für das scheinbar weitsichtige Verhindern einer zukünftigen Tat einheimst, die vom vermuteten Täter überhaupt nicht intendiert war, hebt Dror Mishanis durchdachten Plot weit über das übliche Niveau eines gewöhnlichen Kriminalromans heraus. Auch das gute psychologische Gespür des Schriftstellers für seine Protagonisten und ihre Handlungsmotive sowie seine sensible, empathische Weltsicht machen den Israeli ohne Zweifel zu einem der interessantesten aktuellen Vertreter des zeitgenössischen klassischen Kriminalromans, dem gerade angesichts des offenkundigen aktuellen Desinteresses an israelischer Literatur auf dem deutschen Buchmarkt (über das an anderer Stelle noch zu reden sein wird) viele unbefangene Leser zu wünschen sind. Am Ende darf sein wortkarger Ermittler nach einem Wechselbad der Gefühle und einer erneuten Reise nach Brüssel erneut in eine fragile Idylle privaten Glücks eintauchen. Man darf sich auf weitere Fälle des sympathischen Anti-Helden freuen!

„Die Möglichkeit eines Verbrechens“, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, erschienen bei Zsolnay, 336 Seiten, € 19,95

Freitag, 27. November 2015

„Odins Söhne“ von Harald Gilbers

Für seinen packenden historischen Kriminalroman „Germania“ wurde der langjährige Fernsehredakteur und Theaterregisseur Harald Gilbers im Jahr 2014 zu Recht mit dem Friedrich-Glauser-Preis für das beste (und überraschendste) Krimi-Debüt des Jahres ausgezeichnet. In seinem überaus originellen, vielfach gebrochenen Protagonisten Richard Oppenheimer, einem von den Nazis verfolgten jüdischen Ex-Kriminalkommissar, der im vom intensiven alliierten Luftkrieg geprägten Berlin der letzten Kriegsjahre untergetaucht ist, hat der studierte Historiker gewissermaßen einen politisch korrekteren Gegenentwurf zu Philip Kerrs unverwüstlichem kriminalistischen Dauerbrenner an deutschen Kriegsschauplätzen, Bernie Gunther, geschaffen, der in seinen persönlichen Widersprüchen nicht nur sehr viel komplexer angelegt ist als sein nahezu gleichaltriger jüdischer Kollege, sondern sich auch gegen seinen Willen immer wieder in die politischen Intrigen und Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt, woraus die international vielfach prämierte Reihe ohne Zweifel einen großen Teil ihrer Spannung bezieht. 




Der amphetaminabhängige Oppenheimer hingegen lebt im nationalsozialistischen Berlin unter doppelter Lebensgefahr: als illegaler Jude kann er jederzeit entdeckt oder denunziert und nach Auschwitz deportiert werden, gleichzeitig schwebt über ihm aber auch das Damoklesschwert eines nicht weniger unpersönlichen Todes im nahezu allnächtlichen alliierten Bombenhagel, das er mit allen anderen Bewohnern Berlins teilt. Zwar scheint die Konstruktion der Figur eines verfolgten Juden im Jahr 1944/45, der Dank einer gefälschten Identität unbehelligt als Nachtwächter in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitet (und daher nicht zur Wehrmacht eingezogen werden kann) angesichts des unvorstellbaren, uns in seinen furchtbaren Details nur allzu bekannten kollektiven Leidens in den Konzentrationslagern besonders zu Beginn des nun vorliegenden zweiten Bandes der Reihe, „Odins Söhne“, durchaus gewagt und nicht wenig verharmlosend, möglicherweise unangemessen, doch gelingt es dem Autor erstaunlich schnell, uns mit einer ebenso spannenden wie gut recherchierten, an authentischen Fakten reichen Handlung von seiner durchdachten Konstruktion zu überzeugen.

Also abgesehen von der Thule-Gesellschaft – könnte man noch andere Sekten mit den Indizien in unserem Fall in Verbindung bringen?“
Larsen schmunzelte. „Diese Vorstellungen kursierten schon weit vor dem Aufkommen der Nationalsozialisten. In den letzten Jahrzehnten gab es so viele Logen und okkulte Verbindungen, dass es schwerfällt den Überblick zu behalten.“[...]
Oppenheimer blickte Larsen aufmerksam an.
Aber die Leute haben doch sicherlich bemerkt, dass das alles Unfug ist“, wandte er ein. „Nur eine Minderheit kann an so etwas geglaubt haben.“
Natürlich“, sagte Larsen. „Dieser Okkultismus wurde allgemein als Spinnerei abgetan, als skurrile Randnotiz. Doch die damit verbundenen Vorstellungen gärten im Untergrund weiter und verbreiteten sich schließlich im gesamten deutschsprachigen Raum. Die Anhänger der sogenannten Ariosophie glauben, dass es in der Vergangenheit mal ein goldenes Zeitalter gab, in der die arische Rasse klar überlegen war. Die Ahnen werden als Gottmenschen mit ungeahnten Kräften verklärt. Und das Ziel ist nun, diesen ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.“

Besonders lobenswert ist Harald Gilbers geglückter Versuch, dem interessierten Leser die auch heute noch vielen Menschen weitgehend unbekannten Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie sowie auch die direkte persönliche Verstrickung wesentlicher Protagonisten des Nationalsozialismus in pseudowissenschaftliche, esoterische und sektiererische Weltanschauungen vor Augen zu führen, die seit dem Übergang vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert für eine zunehmende Anzahl angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen ihrer Zeit verunsicherter Menschen mögliche Auswege aus der Unsicherheit ihrer Existenz anzubieten schienen. Die seinerzeit ausgesprochen populäre, insbesondere auch von den Nationalsozialisten geförderte, aus heutiger Sicht geradezu absurd wirkende sogenannte Hörbigersche Welteislehre als in sich geschlossenes alternatives kosmologisches System ist nur ein eher harmloses Beispiel seinerzeit weit verbreiteter Denkansätze, die unserem heutigen Verlangen nach esoterischer Lebenshilfe und Fantasy in Film und Literatur nicht unähnlich sind.

Zerstörtes Propagandaministerium, März 1945/Bundesarchiv, Bild 183-J313336



Richard Oppenheimer gerät gleich zu Beginn des Romans in eine heimtückische, selbst für den routinierten Kriminalisten schwer durchschaubare Falle, die im weiteren Verlauf der Handlung nicht nur ihn selbst in höchste Lebensgefahr bringt, sondern auch seine resolute Gönnerin, die in eigener Praxis niedergelassene Allgemeinmedizinerin Hildegard von Strachwitz, eine Schlüsselfigur des Widerstandes, die ihn schon im ersten Band der Reihe mehrfach vor der drohenden Verhaftung gerettet hatte, unter Mordanklage und dem nicht weniger gefährlichen Vorwurf der Wehrkraftzersetzung vor den berüchtigten Volksgerichtshof Johann Freislers. Hildes bereits seit Jahren getrennt von ihr lebender Ehemann hat als skrupelloser Lagerarzt von Auschwitz das Chaos während der Liquidierung des Lagers genutzt und sich mit einer Zugladung Morphium aus SS-Beständen nach Berlin abgesetzt. Mit Hilfe seiner Frau möchte er die heiße Ware möglichst unverzüglich gewinnbringend verkaufen, um sich mit dem zu erwartenden beträchtlichen Erlös nach Kriegsende im Ausland eine neue, unverfängliche Existenz aufzubauen.

Einsam und verlassen lag das Büro im Zwielicht, an der Zimmerdecke tanzten schwache Lichtreflexe. Auf dem Schreibtisch fand Oppenheimer zu Glück eine Petroleumlampe und zündete den Docht an, während Schmude die Vorhänge zuzog. Sie mussten vorsichtig sein. Obwohl es in der Umgebung lichterloh brannte, war es nicht ausgeschlossen, dass übereifrige Nachbarn die Polizei alarmierten, wenn jemand die Verdunklungsvorschriften missachtete.
Als die Lampe das Zimmer erhellte, mochte Oppenheimer seinen Augen nicht trauen.
Auf Peters' schäbigem Schreibtisch lag eine Schachtel voller Judensterne.
Was zum Teufel ist denn das?“, fragte Schmude.
Das siehst du ja“, murmelte Oppenheimer. „Und hier in der anderen Schachtel sind Entlassungsformulare. Alles blanko. Fürs Gefängnis, sogar fürs Konzentrationslager.“
Unterdessen hatte Schmude einen der Koffer geöffnet, die Peters in der Ecke übereinandergestapelt hatte.
Hier haben wir Gefängniskleidung.“ Er breitete eine gestreifte Hose aus. „Mit Gebrauchsspuren. Sieht ziemlich echt aus.“
Oppenheimer wurde zornig. „Dieses Schwein“, knurrte er. „Weißt du, was das ist? Das hier ist das perfekte Alibi.“

Die von Oppenheimer vermittelte Übergabe des Stoffs an die Berliner Unterwelt misslingt jedoch auf katastrophale Weise, und zwei Tage später wird von einer Polizeistreife die enthauptete Leiche des flüchtigen KZ-Arztes in dessen verwüsteter Wohnung aufgefunden. Erste und für die Behörden einzige Tatverdächtige ist seine Frau Hilde, die ihn zuverlässigen Zeugenaussagen zufolge noch wenige Stunden vor dem geschätzten Todeszeitpunkt aufgesucht und laut mit ihm gestritten hatte. Die offizielle Anklage vor dem bekanntermaßen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie voreingenommenen Volksgerichtshof lautet nicht nur auf Mord, sondern auch auf Wehrkraftzersetzung, beide Vorwürfe für sich allein sichere Todesurteile.

Nazis unter sich/ Bundesarchiv, Bild 151-10-11

Natürlich nimmt Oppermann unverzüglich private Ermittlungen auf, wohl wissend, dass ihn dies in unmittelbare Gefahr bringt, weil auch er selbst zum fraglichen Zeitpunkt am Tatort war. Doch der verzweifelte Versuch, seine Wohltäterin rechtzeitig vor dem kurzfristig anberaumten Prozessbeginn zu entlasten, ist bei weitem nicht seine einzige Sorge: er erhält auch eine Einberufung zum „letzten Aufgebot“ des sogenannten Volkssturms, was ihn erneut in erhebliche persönliche Gefahr bringt, als Jude enttarnt und in den Tod geschickt zu werden.

Um es klarzumachen: Wenn ich den Schießbefehl gebe, dann tut ihr nur so und sagt 'Peng!'. Das reicht. Wir sind nicht hier, um Patronen zu verplempern. Später wird jeder von euch fünf Kugeln bekommen, um das Vaterland zu verteidigen. Es ist eure Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder abgegebene Schuss ein Treffer ist. Jede einzelne Patrone zählt! Und Sie...“ Niklisch zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Oppenheimer und starrte ihn hasserfüllt an. „Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie nur vier Patronen bekommen! Das haben Sie dann davon. Und kommen Sie ja nicht heulend angerannt, wenn Sie einer Horde Russen gegenüberstehen! Ab in die Reihe!“ Zerknirscht trat Oppenheimer in die Reihe zurück. Diese Veranstaltung war noch absurder, als er es ohnehin erwartet hatte. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Auch in seinem zweiten Oppenheimer-Roman gelingt dem Autor eine erschreckend unmittelbare literarische Vergegenwärtigung der bedrückenden Atmosphäre eines Lebens im kontinuierlichen Ausnahmezustand. Im nationalsozialistischen Berlin des Winters 1945 kann nicht nur jeder falsche Schritt und jeder unbedachte Aufenthalt am falschen Ort, sondern sogar jedes unüberlegte Wort das sichere Todesurteil bedeuten. Noch häufiger als im ersten Band wird Oppenheimer dabei im Lauf seiner verzweifelten Ermittlungsbemühungen von den aufs Äußerste intensivierten, schon längst nicht mehr nur auf nachts beschränkten Bombenangriffen der Alliierten behindert. Es ist ein großartiger, metaphorisch kaum zu übertreffender Einfall, wie sich der Protagonist ebenso wie die von ihm beschatteten Verdächtigen immer wieder unvermittelt einen sicheren Unterschlupf in einem Kellerraum oder einem öffentlichen Gemeinschaftsbunker suchen müssen, um das Bombeninferno wohlbehalten zu überstehen. Die Spannung des Romans wird dadurch noch deutlich gesteigert – von genialer Absurdität ist die finale Verfolgungsszene, in der Ermittler und Zielperson einträchtig im Bunker sitzen und auf das Entwarnungssignal warten.

Harald Gilbers/Foto: Ronald Hansch

Als schwer greifbarer Strippenzieher im Hintergrund erweist sich schließlich der skrupellos-verblendete Guru einer durch und durch von rassistischen Überlegenheits- und mystizistischen Erlösungsgedanken durchdrungenen völkischen Sekte, deren ebenso weltfremde wie lebensfeindliche Ideologie sich der Autor gar nicht erst ausdenken musste, sondern sich aus authentischen Vorbildern, wie sie auch Elisabeth Hamann in ihrem Buch „Hitlers Wien“ ausführlich beschreibt, frei zusammenstellen konnte, ohne sie im Sinne einer stärkeren Wirkung noch weiter ausschmücken zu müssen. Den unvoreingenommenen Blick des nachhaltig irritierten Lesers gezielt auf den inneren Zusammenhang zwischen sektiererischen Erlösungsgedanken und dem verhängnisvollen Weg in einen totalitaristischen Staat zu richten, ist gerade auch angesichts der Herausforderungen unserer Zeit vielleicht der größte Verdienst des spannenden Kriminalromans. Denn im Gegensatz zu den unmittelbar betroffenen Protagonisten des Buches befinden wir uns als „unbeteiligte“ Leser in der bequemen Lage, die beschriebenen Ereignisse aus einer Perspektive zu betrachten, die wir uns vielleicht generell zu eigen machen sollten, da sie allein uns wirksam befähigt, Erlebtes und Beobachtetes rational und unvoreingenommen, gleichsam „neutral“ zu beurteilen. In diesem Fall werden unser Schrecken und unsere Erschütterung dadurch letztlich nur noch gesteigert. Einen derart nützlichen inneren Prozess umfassenden Begreifens im Leser auszulösen, ist ohne Zweifel eine große schriftstellerische Leistung. Das mit seinem literarischen Debüt gegebene Versprechen vermag Harald Gilbers auf diese Weise ohne Abstriche einzulösen.

„Odins Söhne“, erschienen bei Knaur, 528 Seiten, € 9,99