Jerusalem

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Dienstag, 30. Dezember 2014

„Kälte, Wind und Freiheit“ von Robert Peroni

In seinem packenden Expeditionsdrama „Spielplatz der Helden“ (1988), dem möglicherweise besten und psychologisch ausgefeiltesten seiner frühen Romane, berichtet Michael Köhlmeier von der aufsehenerregenden Durchquerung des grönländischen Inlandeises über 1400 Kilometer innerhalb von 88 Tagen durch drei Südtiroler Extremsportler allein aus eigener Kraft, mit selbstgebauten Schlitten, ohne Funkkontakt und ohne Lebensmitteldepots im Jahr 1983. In der existenziellen Auseinandersetzung mit sich selbst und den übermächtigen Naturgewalten zerstritten sich die drei Teilnehmer der Expedition so nachhaltig, dass sie nach erfolgreich vollbrachter Tat nicht nur jeglichen persönlichen Kontakt abbrachen, sondern sich nicht einmal mehr gegenseitig grüßten, wenn sie einander im heimischen Bozen zufällig auf der Straße begegneten.



Noch in seiner 2011 erschienenen, nach archetypischen Motiven und Themenschwerpunkten gegliederten Märchenauswahl „Märchen Dekamerone – Eine Weltreise in hundert Geschichten“ erinnert sich Michael Köhlmeier in der Vorrede zum Kapitel „Drei“ an ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Leiter des waghalsigen Unternehmens, dem 1944 geborenen Extrembergsteiger und Abenteurer Robert Peroni:

Er hat mir ausführlich von diesem fatalen Abenteuer erzählt. Er war der Meinung, dass man so eine gefährliche Reise nur zu dritt überleben kann. Und dass man sie nur überleben kann, wenn man streitet. Und je gefährlicher und strapaziöser das Unternehmen ist, desto heftiger und radikaler muss der Streit sein, soll die Reise nicht mit dem Tod aller enden. […] Zwei streiten, der Dritte ist der Verbündete, der wird gebraucht, um sich über den anderen lustig zu machen, um sich bestätigen zu lassen, dass man selber Recht hat. […] Der Dritte ist der wahre Held der Expedition. Er muss ein Lügner sein, er muss ein Psychologe sein, er muss ein Gefühl für Timing haben, er muss voll Niedertracht und zeitgleich voll Menschenliebe sein, er muss den Menschen verachten und ihn zugleich in seiner Hinfälligkeit und Schwäche verstehen. […] Der Dritte repräsentiert die Welt, er hat Erwartungen an die Zukunft, er erinnert sich an die Vergangenheit; er führt durch den Sturm, durch die Nacht, durch die Kälte. In ihm seht ihr euch gespiegelt, sowohl wie ihr seid, als auch, wie ihr gern sein wollt. Dem Dritten ist es zu verdanken, wenn ihr überlebt.

Zu Robert Peronis dieses Jahr vollendetem siebzigsten Geburtstag ist nun im auf erzählende Reiseliteratur spezialisierten Malik-Verlag in München ein ausgesprochen wichtiges und lesenswertes Buch erschienen, in dem der lebenserfahrene Forscher und Abenteurer nun selbst von der nach seiner eigenen Aussage wichtigsten Reise seines Lebens berichtet. Dabei deutet schon der möglicherweise irreführende Untertitel Wie die Inuit mich den Sinn des Lebens lehrten an, dass es sich dabei nicht um einen Abenteuerbericht im herkömmlichen Sinne handelt, wie es das an sportlichen Extremen so überaus reiche Leben des Südtiroler Ausnahmeathleten zu versprechen scheint.

Die Hochebene

Die letzten Expeditionen hatten einen schalen Nachgeschmack hinterlassen: übermächtige Sponsoren, eine neue Generation von Expeditionsteilnehmern, die immer mehr Athleten und immer weniger Bergsteiger waren, Geldgeber, die konkrete Ergebnisse verlangten, und eine nach außen hin zwar partnerschaftliche Atmosphäre, die jedoch sofort verflog, sobald einer der Teilnehmer sich selbst beweisen wollte. Und ich mittendrin, um Frieden zu stiften. Ich war das alles so leid. […] Ich hatte immer meine Kollegen kritisiert, die eine gewisse Sammlermentalität an den Tag legten – jetzt der Achttausender hier, dann eine unerforschte Wüste dort und danach vielleicht eine Polardurchquerung –, aber inzwischen war auch ich in diesem Räderwerk gefangen. Sobald man eine Expedition abgeschlossen hatte, galt es sofort eine neue zu finden, die noch spektakulärer, noch extremer war, ganz so, wie es die Sponsoren liebten, die sich davon einen guten Werbeeffekt versprachen.

Von seiner kräftezehrenden Grönlandexpedition war auch Robert Peroni 1983 innerlich verändert zurückgekehrt. Die Erlebnisse im lebensfeindlichen Eis der von den einheimischen Inuit als vermeintliches Dämonengebiet gemiedenen Hochebene ließen Peroni nie los und bewirkten, dass er in den darauffolgenden Jahren regelmäßig für mehrere Monate nach Grönland zurückkehrte und sich schließlich, Anfang der 1990er Jahre, dauerhaft und endgültig dort niederließ, um das sogenannte Rote Haus, ein Hotel und kulturelles Begegnungszentrum, zu gründen: die kaum erforschte, für westliche Maßstäbe so schwer zu begreifende und trotz ihrer perfekten Anpassung an die extremen Lebensbedingungen des Polarkreises heute massiv vom Aussterben bedrohte Kultur der Inuit hatte ihn innerlich so gepackt, dass er letztlich die wesentliche Aufgabe seiner zweiten Lebenshälfte in der kulturellen Vermittlung zwischen der ebenso archaischen wie bewährten Lebensweise der Inuit und der vermeintlicherweise höher entwickelten westlichen Zivilisation erkannte und auch annahm.

Polarlicht 

Die unter den lebensfeindlichen Bedingungen ihres Lebensraums nahezu ausschließlich auf Robbenjagd gründende Kultur der Inuit, deren wesentliches Merkmal ein dem alltäglichen Kampf um Nahrung gewidmetes hoch entwickeltes Sozialleben ist, in dem jedem einzelnen Mitglied der Sippe eine wichtige Aufgabe im Rahmen seiner individuellen Talente und Fähigkeiten zukommt, hat in der ihr durchaus wohlmeinend gegenüberstehenden westlichen Zivilisation erstmals einen Widersacher gefunden, auf den sie keine angemessene Antwort findet. Während die Wikinger, die sich immerhin über dreihundert Jahre in Grönland aufhielten, dort aber schließlich regelrecht ausstarben, weil sie nicht fähig waren, sich auf die vorgefundenen Bedingungen einzustellen, haben die Inuit, wie andere an extreme Bedingungen angepasste Völker wie zum Beispiel die Tuareg in der Sahara, immer einen Vorteil aus ihrer idealen Anpassung gezogen, der Fähigkeit, sich selbst in Beziehung zu den Umständen zu setzen.

Wenn jemand jedoch in dieser großen weißen Eislandschaft lebt, wo der Schnee meterhoch liegt, kommt er nicht umhin, sich damit ganz unmittelbar auseinanderzusetzen. Er wird ganz automatisch denken: „Was soll ich jetzt tun?“ Und so redet er mit dem Schnee und ist überzeugt, dass der ihm antworten wird. Oder mit dem Wind, weil er hofft, dass er auf ihn hört und sich legt. Der Schamanismus ist genau das: die Philosophie der Natur. Eine sehr einfache zwar, aber doch eine Philosophie. Dahinter steht weder ein Denksystem noch eine kirchliche Hierarchie: Niemand hat je eine Bibel des Schamanismus geschrieben. Die Geschichten wurden stets mündlich überliefert. Auch weil es nicht viel zu erklären gibt: man begreift instinktiv, worum es geht.

In dieser besonderen Fähigkeit äußert sich aber nicht nur eine allumfassende, gleichsam natürliche Art von Spiritualität, die Peroni seit seiner Kindheit vertraut ist und die er auch in seinen eigenen Expeditionen stets im naiven Dialog mit der Natur am Leben gehalten hat, wie er in seinem Buch anhand zahlreicher einprägsamer Beispiele immer wieder veranschaulicht. Die Weltsicht der Inuit ist so universell und dabei stets auf Toleranz gegenüber anderen Meinungen bedacht, dass sie gleichzeitig auch eine erhebliche, kaum zu leugnende politische Dimension aufweist und somit auch für uns eine wichtige persönliche und gesellschaftliche Vorbildfunktion erfüllen kann.

Eisberg

Hier nimmt das übergeordnete Thema von Köhlmeiers Roman nicht nur auf wunderbare Weise den inneren Kern von Peronis fünfundzwanzig Jahre später entstandenem Buch vorweg, sondern manifestiert auch einen im Verlauf dieser Zeit stetig angewachsenen erheblichen Mangel innerhalb der westlichen Kultur, der heute von vielen Menschen erkannt und beklagt wird. Die Protagonisten in Köhlmeiers Roman versuchen unablässig sich in Beziehung zur feindlichen Natur und zu ihren Leidensgenossen zu setzen, worin wir ohne Zweifel eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit erkennen müssen. Diese Fähigkeit haben die Inuit wie kaum ein anderes Volk auf höchstem Niveau perfektioniert, während in unserer Gesellschaft eine willentliche Kultur der Abgrenzung herrscht: so gilt es als höchste Errungenschaft und Gipfel individueller wie kollektiver Urteilskraft, sich von einer eindeutig pathologischen Bewegung wie Pegida abzugrenzen, die nichts anderes tut als eine kollektive psychische Störung in der Öffentlichkeit zu kultivieren. Hier erweist sich die Weltsicht der Inuit als vollendete Kultur eines lebendigen, vorurteilsfreien Pluralismus.

Man muss nicht gleich Worte wie „Toleranz“ oder „Respekt“ in den Mund nehmen, die es in ihrer Sprache nicht einmal gibt. Diese Aufgeschlossenheit gegenüber dem Nächsten ist ein ganz natürliches Verhalten der Inuit und vielleicht, wie immer, durch ihre Geschichte bedingt: Wie kann man sich streiten, wenn man auf wenigen Quadratmetern zusammenleben muss und draußen vierzig Grad unter null herrschen? Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man wird gewalttätig, doch in diesem Fall wäre das ganze Volk vermutlich innerhalb weniger Generationen ausgestorben, oder man muss ein äußerst sanftes Wesen entwickeln. Alle waren zu sehr damit beschäftigt zu überleben, um böse zu sein oder den Nachbarn zu hassen.

Die willentliche Abgrenzung entspricht aber auch dem wesentlichen Antrieb des konventionellen Abenteurers, dessen waghalsige Expeditionen dem Wesen nach eher radikal ausgelebte Egotrips als Kommunikation mit der Natur sind. Von dieser beschränkten Sichtweise hat sich Robert Peroni mit seinem beherzten Eintreten für die Belange der Inuit endgültig gelöst, auch wenn er für die Zukunft dieses bedrohten Volkes nur wenig Hoffnung sieht. Sein ebenso packendes wie nachhaltig inspirierendes Buch entspricht so gar nicht den landläufigen Erwartungen an einen Abenteuerbericht und weist doch gleichzeitig weit darüber hinaus, auf ein vielfach größeres Abenteuer, das uns schließlich ermöglicht, die Welt mit anderen Augen, vielleicht sogar aus einem umfassenderen Blickwinkel als bisher zu betrachten. In Bezug auf die Inuit äußert sich das Versagen unserer westlichen Zivilisation aber auch in unserem kulturell bedingten Unvermögen zu erkennen, wo wir in unseren scheinbar lobenswerten sozialen und ökologischen Bemühungen den Belangen der Inuit nicht gerecht werden, scheint doch unsere Blindheit ein Symptom unserer Kultur.

Robert Peroni/Foto: Moreno Bartoletti

In seinem suggestiven Roman "Teryky" erzählt der tschuktschische Dichter Juri Rytchëu von einem einsamen Polarjäger, der nach einer lebensgefährlichen Irrfahrt auf einer Eisscholle schließlich als Dämon zu seiner Sippe zurückkehrt. Diese Sichtweise entspricht in wesentlichen Punkten der mündlichen Überlieferung der Inuit, die besagt, dass wer sich aus freier Entscheidung in unvorhersehbare tödliche Gefahr in lebensfeindlicher Umgebung begibt – in Dämonenland sozusagen – nur überleben kann, indem er das Menschliche abstreift und selbst zum Dämon wird. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Robert Peroni auf der Hochebene Grönlands – anders als es die mündliche Überlieferung der Inuit besagt und anders als viele seiner besessen scheinenden ehemaligen Kollegen – seine persönlichen Dämonen endgültig losgeworden ist. Innerhalb der unermesslich weiten Landschaften des menschlichen Geistes kann man sich kaum eine größere persönliche Leistung vorstellen.

„Kälte, Wind und Freiheit“, aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt, erschienen bei Malik, 238 Seiten, € 22,99

Mittwoch, 17. Dezember 2014

Acht Lichter für Chanukka und Top-Ten-Liste 2014

Erneut geht ein Jahr zu Ende, das für mich als Blogger voller positiver Überraschungen war. Trotz zahlreicher unvorhersehbarer Hindernisse haben sich die Besucherzahlen des Blogs im Verlauf des letzten Jahres in einem Maße stabilisiert, das ich nie für möglich gehalten hätte. Als ich vor gut zwei Jahren begann, den Kerngedanken meiner langjährigen Rubrik in der Jüdischen Zeitung auf einen Blog mit einem merkwürdig-sperrigen, aber möglicherweise einprägsamen Titel zu übertragen, ging es mir vor allem darum, einem an diesem bewährten Themenschwerpunkt interessierten Publikum weiterhin einen kurzweiligen Überblick über interessante Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt zu bieten und gleichzeitig eine liebgewonnene Arbeit weiterzuführen, die mich über viele Jahre in vielerlei Hinsicht vor allem um viele neue Erfahrungen und neue Perspektiven bereichert hat.


It's dreidel spinning time!


Neben den offensichtlichen Themenstellungen aus modernem Judentum und Psychologie ist mir aber im Verlauf meiner Arbeit allmählich bewusst geworden, dass der Psychosemitische Buchblog auch den Versuch über eine entschieden realitätsbezogene poetische Weltsicht beinhaltet: den Wunsch, die Welt mit literarischen Mitteln auf eine Art und Weise veranschaulicht zu sehen, wie sie neben vielen verschiedenen anderen Sichtweisen auch wahrgenommen werden kann, vielleicht sogar wahrgenommen werden sollte. Dass diese besondere Perspektive mittlerweile von so vielen Besuchern gewertschätzt und vielleicht sogar geteilt wird, ist auch für mich persönlich eine große Freude! Für dieses Interesse, die Ermutigung und die Anerkennung, die mir von vielen Seiten entgegengebracht wurde, bedanke ich mich sehr herzlich!


Die unangefochtene Number One


Top-Ten-Liste 2014

 

Nach Auswertung der Statistiken des abgelaufenen Jahres, die erneut viele Überraschungen und unerwartete Erkenntnisse beinhaltete, gebe ich hier als Anregung für Buchgeschenke nicht nur eine Top-Ten-Liste der meistgeklickten Blog-Beiträge im Jahr 2014 wieder, sondern auch eine Liste mit acht persönlichen Empfehlungen, die möglicherweise analog zum dieser Tage gefeierten makkabäischen Lichtwunder von Chanukka im biblischen Tempel in Jerusalem auf symbolische Art und Weise im Geist des Lesers viel länger zu leuchten vermögen, als er es für möglich hält.





Acht Lichtwunder

 


Dienstag, 9. Dezember 2014

„Der Ozean am Ende der Straße“ von Neil Gaiman

In einer der eindringlichsten und unvergesslichsten Szenen in Neil Gaimans raffiniertem psychologischen Schauerroman steht der kindliche Protagonist wehrlos und von dunklen Mächten bedroht auf einem sturmgepeitschen nächtlichen Feld im ländlichen Südengland der 1960er Jahre und erwartet den letzten Schlag einer wollüstigen Dämonin namens Ursula Monkton, die sich nach einer Reihe für die Seele eines Siebenjährigen unbegreiflicher und traumatischer Ereignisse dauerhaft im Haus der Eltern als scheinbar harmloses Kindermädchen eingeschlichen hat und deren bösartige, zerstörerische Energie er offenbar als einziger zu durchschauen vermag.


Am Ende scheint ihm nur noch ein kleines Kätzchen, das sich in seinen Schoß geflüchtet hat, eine unzulängliche letzte Zuflucht vor den furchterregenden Gewalten zu bieten, die ihn bedrohen – aber es ist nicht klar, wer hier der Gebende und wer der Empfangende ist. Doch als der undenkbare Weg zurück nach Hause unter die unerbittlich Kontrolle der sadistischen Ursula – oder vielleicht Schlimmeres – schließlich vollkommen unausweichlich erscheint, geschieht etwas Wunderbares:

Die Katze, die ihren Kopf an meine Brust schmiegte, stieß einen schrillen Laut aus. Ein Miauen war das nicht. Ich wandte mich um und schaute hinter mich, weg von Ursula Monkton.
Das Mädchen, das über das Feld auf uns zugelaufen kam, trug einen leuchtend roten Regenmantel mit einer Kapuze und ein Paar Schwarze Gummistiefel, die ihr zu groß zu sein schienen. Furchtlos kam sie aus der Finsternis und schaute zu Ursula Monkton auf.
Verschwinde von meinem Land“, sagte Lettie Hempstock.

Es soll nicht das einzige Mal bleiben, in dem die ebenso undurchschaubare wie beherzte, kaum zwölf Jahre alte und mit geheimnisvollen, übermenschlich scheinenden Fähigkeiten ausgestattete Lettie Hempstock den Erzähler aus höchster Gefahr rettet. Dieser ist nach nach dem unglücklichen Unfalltod seines ersten eigenen Haustiers und dem Selbstmord eines Untermieters, dessen grausam entstellte Leiche er selbst aufgefunden hatte, mit seinen unbekannten, neuartigen Gefühlen und den ihn bestürmenden Fragen und Gedanken vollkommen allein, da seine in beträchtliche finanzielle Sorgen verstrickten Eltern beide den ganzen Tag arbeiten müssen. Eines frühen Morgens erstickt er beinahe an einem kleinen Geldstück, das im Schlaf auf wundersame Art und Weise in seine Kehle gelangt ist. In dieser Situation bedeutet es ein großes Glück für ihn, dass er sich zuweilen in die altmodische Behaglichkeit des männerlosen drei-Generationen-Haushalts der Familie Hempstock flüchten kann, hinter deren mittelalterlicher Farm sich ein malerischer kleiner Weiher befindet, den Lettie unerfindlicherweise ihren Ozean nennt.

Sparrwood Farm, Billingshurst, West Sussex

Ich trug noch immer die altmodischen Kleider, die ich heute Morgen angezogen hatte, und ich stieg aus dem Teich auf das Gras am Ufer, und dabei stellte ich fest, dass meine Kleider und meine Haut völlig trocken waren. Der Ozean befand sich wieder in dem Teich, und als wäre ich an einem Sommertag aus einem Traum erwacht, blieb mir nur das Wissen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit alles gewusst hatte.
Ich sah Lettie im Mondschein an. „Ist es für dich immer so?“
Was soll für mich wie sein?“
Weißt du immer alles, die ganze Zeit?“

Neil Gaiman (geboren 1960), der als einer der erfolgreichsten Comic-Autoren unserer Zeit mit schon so ziemlich jedem bedeutenden Preis ausgezeichnet worden ist, den dieses vielseitige, wenn auch weitgehend unterschätzte Genre zu bieten hat, gestaltet sein grandioses poetisches Schauermärchen als faszinierenden literarischen Balanceakt auf der spielerisch-durchlässigen, kreativen Grenze zwischen der realen Lebenswelt eines traumatisierten Kindes in den 1960er Jahren und einer gedanklich nur ausgesprochen schwer greifbaren Sphäre aus kindlicher Fantasie, Wunderglauben und hellsichtig-unbefangener Offenheit für die fremde, berechtigterweise ebenso furchtbesetzte wie heilende Welt des Unbewussten. Für diese findet der Autor in einer geradezu berückenden Schatztruhe von gelungenen Metaphern eine absolut kongeniale Übersetzung, die für jeden Leser nicht nur unmittelbar zugänglich ist, sondern auch seine eigene Lebenswirklichkeit widerzuspiegeln scheint.

Also hast du früher einmal alles gewusst?“
Sie rümpfte die Nase. „Jeder hat das. Hab ich dir doch erklärt. Es ist nichts Besonderes, wenn man weiß, wie die Welt beschaffen ist. Und du musst das wirklich alles aufgeben, wenn du spielen möchtest.“
Spielen? Was denn?“
Das“, sagte sie und deutete mit einer weit ausholenden Handbewegung auf das Haus und den Himmel und den unglaublichen Vollmond und die Stränge und Schwärme strahlend heller Sterne.

Neil Gaiman beschreibt in seinem faszinierenden Buch aber auch ausgesprochen anschaulich einen langwierigen Prozess der Bewusstwerdung als kontinuierliche Wechselwirkung, die geradezu unausweichlich erscheint, wenn man als menschliches Individuum den Mut aufbringt, sich mit seiner eigenen Innenwelt, den eigenen Träumen und Zielen sowie der Welt des Unbewussten aktiv auseinanderzusetzen. Von der vorübergehenden Einheit einer absoluten inneren Verbundenheit mit dem Universum und dem gefühlsmäßigen Wissen um die Geheimnisse des Lebens und der menschlichen Existenz, wie es im Traum möglich ist, muss der Mensch im Zustand der Wachheit seines rationalen Verstandes aufgrund seiner natürlichen Veranlagung zur Verdrängung unmittelbar wieder auf eine Stufe der Unbewusstheit und Trennung zurückfallen, um anschließend wieder einen Zustand der Einheit anzustreben.

Neil Gaiman/Foto: Kimberly Butler

Gemeinsam mit Lettie erlebt der Erzähler zahlreiche undenkbare Abenteuer, die meistenteils der fremdartig-stringenten Logik des Unbewussten zu gehorchen scheinen, wie wir sie vor allem aus intensiven (Alp-)Träumen kennen, und somit auf ebenso geistreiche wie unterhaltsame Art und Weise innere Erlebnisse in einer komplexen äußeren Handlung abzubilden vermögen. Dabei gelingt es Neil Gaiman scheinbar mühelos, zwei weitere unvereinbare scheinende Welten in einer hoch poetischen, beinahe zu Tränen rührenden Umarmung miteinander in Einklang zu bringen: denn so wie der kindliche Erzähler auf schmerzvolle Art und Weise sich der komplexen Welt der Erwachsenen annähert, findet sein späteres, scheinbar desillusioniertes Erwachsenen-Ich durch die allzu lange verdrängte Erinnerung an die einschneidenden Erlebnisse mit Lettie zurück zu einer tröstlichen Ahnung von kindlicher Leichtigkeit.

Ich sehne mich nicht nach meiner Kindheit, aber ich sehne mich nach der Freude, die ich früher an kleinen Dingen fand, selbst wenn weit wichtigere Dinge im Argen lagen. Ich hatte keine Macht über die Welt, in der ich lebte, ich konnte nicht vor Dingen oder Menschen oder Augenblicken fliehen, die mir wehtaten; aber ich freute mich über die Dinge, die mich glücklich machten. Die Vanillesoße war süß und cremig, die dunklen, prallen Korinthen verliehen der weichen Fadheit des Puddings eine gewisse Würze; und auch wenn ich an jenem Abend vielleicht sterben würde, selbst wenn ich nie wieder nach Hause gehen würde, war das ein leckeres Abendessen, und ich hatte Vertrauen in Lettie Hempstock.

Mit seinem neuen eindrucksvollen Schauerroman über die ungewöhnliche Freundschaft zweier ungleicher Kinder in England ist Neil Gaiman ohne Zweifel ein neuer Klassiker der intelligenten Erbauungsliteratur gelungen, der sowohl jene Leser begeistern dürfte, die von einem guten Buch nicht mehr als eine fesselnde, einfallsreich erzählte Geschichte erwarten, vor allem aber wird er besonders jene Leser begeistern, die sich in einer scheinbar herzlosen und überrationalen Welt spirituellen Rat und Beistand erhoffen. Anders als die meisten anderen Autoren, die sich diesem von der Literaturkritik manchmal nicht ganz zu Unrecht vernachlässigten Genre widmen, gelingt dies Neil Gaiman in unmittelbarer Sichtweite der Grenze zum Kitsch, ohne diese jemals zu überschreiten. „Der Ozean am Ende der Straße“ ist eine ideale, lohnende Endjahreslektüre, der man kaum genug Leser wünschen kann.

„Der Ozean am Ende der Straße“, aus dem Englischen von Hannes Riffel, erschienen bei Eichborn, 238 Seiten, € 18,-

Donnerstag, 4. Dezember 2014

„Sangre Kosher“ von María Inés Krimer

Menschenhandel und Zwangsprostitution sind zwar eindeutig keine Erfindungen der Neuzeit, ohne Zweifel jedoch können wir gerade diese beiden Erscheinungsformen moderner Sklaverei heutzutage aufgrund unserer nahezu lückenlosen globalen Vernetzung eindeutig besser dokumentieren und bekämpfen als etwa in der Antike oder in der Renaissance. In jedem Fall besser auch als noch vor gut hundert Jahren, als – was kaum jemandem in Europa bewusst ist – jüdische Mafiabanden vor allem in Brasilien und Argentinien ein weitverzweigtes, perfekt organisiertes und gut funktionierendes Netzwerk errichtet hatten, das über ihre Mittelsmänner insbesondere in den ärmlichen und stets von gewalttätigem Antisemitismus bedrohten jüdischen Gemeinden Osteuropas gezielt auf Menschenfang ging, um über viele Jahrzehnte weitgehend unbehelligt tausende argloser jüdischer Frauen nach Südamerika zu verschleppen, welche sie zumeist glauben gemacht hatten, eine verheißungsvolle arrangierte Ehe in der sagenumwobenen Neuen Welt einzugehen, sie dort stattdessen aber brutal zur Prostitution zwangen.


Diese vornehmlich im Verborgenen operierenden Verbrecherorganisationen konnten in jenen unabhängigen südamerikanischen Staaten, auf die sie ihre kriminellen Aktionen konzentriert hatten, durch den ungehemmten, regelmäßigen Gebrauch von physischer und psychischer Gewalt, politischen Drohgebärden sowie Bestechung oft einen erheblichen gesellschaftlichen Einfluss vorweisen, der sie in die bequeme Lage versetzte, meistenteils unbehelligt von Polizei und Behörden ihren weitverzweigten Geschäften nachzugehen. Aus historischer Perspektive berichtet der brasilianische Schriftsteller Ronaldo Wrobel über die Praktiken dieser skrupellosen jüdischen Menschenhändler, etwa in seinem wunderbaren, soeben als Taschenbuch erschienenen Roman „Hannahs Briefe“, während die in ihrer Heimat vielfach ausgezeichnete argentinische Autorin María Inés Krimer diese zum authentischen pittoresken Hintergrund ihres soeben erst ins Deutsche übersetzten humorvoll-ironischen Noir-Krimis „Sangre Kosher“ macht, einer absolut hinreißenden, in hohem Maße originellen Neuentdeckung für die internationale Krimilandschaft.

Manchmal fragte ich mich, woher mein Interesse an der Zwi Migdal stammte. Die Figuren und Geschichten, die sie zu bieten hatte, übertrafen an Phantastik alles, was sich ein Schriftsteller hätte ausdenken können. Jedes Mal wenn ich nachmittags allein im Archiv saß und wartete, dass vielleicht das eine oder andere Kind nach der schul bei mir vorbeisah, nahm ich mir ein neues Kapitel dieser Geschichte vor, die ich aus irgendeinem Grund auch als die meine betrachtete. Außerdem versuchte ich, mich dadurch für meine feuchte Zwei-Zimmer-Wohnung, die Zeitungsstapel auf dem Schreibtisch, die Kakerlake, die Morgen für Morgen durch meine Küche spazierte, und meine unmäßige Neigung zu Süßspeisen zu entschädigen.

María Inés Krimers durch liebevoll-lebensnahe, empathische Charakterzeichnung in all ihrer menschlichen Unvollkommenheit für den Leser unwiderstehliche, ebenso neugierige wie schlagfertige Protagonistin Ruth Epelbaum war über lange Jahre Leiterin des jüdischen Gemeindearchivs einer argentinischen Kleinstadt gewesen. Seitdem ihr der Vorstand allerdings per Mehrheitsbeschluss wegen ihrer mittlerweile allzu tiefen Einblicke in die Gemeindestrukturen die freiwillige Kündigung nahegelegt hat, lebt die alleinstehende desillusionierte Mittvierzigerin nun schon seit einigen Jahren in Buenos Aires, wo sie ihren bescheidenen Lebensunterhalt mit allerlei unbedeutenden Gelegenheitsjobs sowie fallweise auch als resolute und scharfsinnige Privatdetektivin bestreitet. Bei der Beerdigung einer entfernten Kusine, die erst kürzlich während des Haarefärbens im Friseursalon verstorben war, erhält sie von dem Juwelier Chiquito Gold unerwartet den unkompliziert scheinenden Auftrag, dessen Tochter zu suchen, die seit über einer Woche spurlos verschwunden ist.

Calle Libertad am Abend

Jede Stadt besteht in Wirklichkeit aus mehreren Städten, das habe ich immer wieder festgestellt. Sobald man sein übliches Viertel verlässt, verschwinden die gewohnten Gesichter, und auf einmal sieht man lauter Leute, die man längst vergessen oder für tot gehalten hatte. Diese schwindelerregende Erfahrung machte ich einmal mehr in der Calle Libertad.

Ihre unmittelbar darauf mit großem Tatendrang begonnenen Recherchen, die von ihrer neugierigen Schickse Gladys ungefragt immer wieder mit unverhofftem Rat und nützlicher Tat unterstützt werden, führen Ruth zunächst in ein luxuriöses Fitnessstudio, wo sie gleich beim ersten Besuch zahlreiche für den weiteren Verlauf der Handlung ausgesprochen wichtige Protagonisten kennenlernt: einen dynamisch-durchtrainierten glatzköpfigen Bundesrichter, eine offenherzige Rezeptionistin mit eindrucksvoll dimensionierten künstlichen Brüsten sowie jenem jungen umschwärmten Fitnesstrainer, der auf dem letzten Foto von Chiquitos vermisster Tochter gemeinsam mit ihr vor einem eleganten Ferienhaus im Paraná-Delta posiert hatte, einem beliebten Naherholungsgebiet der besseren Gesellschaft von Buenos Arires. Doch noch bevor sie den Coach bei nächster Gelegenheit eingehend befragen kann, hat er sein Leben bereits unter kläglichen Umständen in einer öffentlichen Toilette ausgehaucht, was Ruth unmissverständlich klar macht, dass ihre Recherche weit über das Aufspüren einer möglicherweise aus eigenem Antrieb durchgebrannten, eingebildeten Juwelierstochter hinausgehen könnte.

Ich dachte an die Leiche der jungen Frau. Ihre völlig aufgeweichte Haut. Die an Hals, Kinn und Stirn klebenden Blätter. Die aufgerissenen Augen. Den Schaum vor dem Mund. Ich empfand nichts besonderes für diese Frau. Aber der, der sie ins Wasser geworfen hatte, konnte das Gleiche, oder noch Schlimmeres, mit Débora getan haben. Und mit mir würde er es vielleicht auch tun.

Auf der Suche nach dem auf dem Foto abgebildeten Bungalow stößt Ruth zielsicher auf die im Fluss treibende Leiche einer anderen jungen Frau, die offensichtlich am selben Tag wie Débora Gold verschwunden ist, wie sich schon bald herausstellt. Und in dem leerstehenden Ferienhaus scheinen am Wochenende regelmäßig rauschende Partys stattzufinden, eine verwirrt scheinende Indianerin als unzuverlässige Zeugin will dabei nicht nur stets einen deutlichen Frauenüberschuss beobachtet haben, sondern auch, dass die wenigen teilnehmenden Männer immer allesamt sehr viel älter seien als die ausnehmend attraktiven jungen Frauen. Als Ruth unter geheimnisvollen Umständen eine brutale Videodatei zugestellt wird, beginnt sie langsam zu argwöhnen, dass die jüdische Mafiaorganisation Zwi Migdal, die nach offizieller Verlautbarung seit mehr als achtzig Jahren nicht mehr aktiv sein soll, in Wahrheit lebendiger sein könnte als die Öffentlichkeit glaubt.

 María Inés Krimer/Foto: Alejandro Guyot

Mit „Sangre Kosher“, dem ersten Band einer als Reihe angelegten Krimiserie um die sympathische jüdische Privatdetektivin Ruth Epelbaum, bereichert der kleine Verlag Diaphanes im Rahmen seiner von Thomas Wörtche herausgegebenen Reihe Penser Pulp den unter dem zyklusartig verlaufenden Einfluss dominierender Großtrends betont eintönigen deutschsprachigen Krimimarkt einmal mehr um eine weitere überraschende schillernde Facette, die dem glänzend unterhaltenen Leser auf eindrucksvolle Art und Weise vor Augen zu führen versteht, dass selbst die unscheinbarsten (Sub-)Kulturen immer wieder auch ein dankbares Objekt für umsichtige soziale Recherche mit dem Mittel spannender Kriminalliteratur sein können und unseren Blick auf die Gesellschaft somit höchst nützlich zu bereichern vermögen. Auf weitere Bände der Reihe darf man sich jetzt schon freuen!

„Sangre Kosher“, aus dem argentinischen Spanisch von Peter Kultzen, erschienen bei Diaphanes, 198 Seiten, € 17,95

Freitag, 28. November 2014

„Hier bin ich, mein Vater“ von Friedrich Torberg

In diesem erstmals 1948 erschienenen und noch während des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil begonnenen, heute jedoch leider weithin vergessenen enigmatischen Roman, den nicht wenige aus gutem Grund für seinen besten halten, wagt der außerhalb von Österreich (wo sein Roman „Der Schüler Gerber“ zum offiziellen Kanon der Schullektüre zählt) nicht mal mehr als Kishon-Übersetzer im Gedächtnis gebliebenen brillanten Wiener Schriftstellers Friedrich Torberg den aberwitzigen und auf bravouröse Art gelungenen Versuch, ein „unlösbares Problem als solches darzustellen“, wie er es selbst als schlagfertige Entgegnung auf das seinerzeit weitverbreitete Unverständnis formulierte, das seinem unbequemen Buch bei seiner Erstveröffentlichung größtenteils entgegenschlug.



Ein Buch über die vielfältigen Gewissensqualen eines jüdischen Gestapospitzels im nationalsozialistischen Wien musste in einer Zeit, in der die meisten Menschen in Österreich wie auch in Deutschland mit umtriebigem Eifer vor allem mit der gleichermaßen unlösbar scheinenden Aufgabe beschäftigt waren, ihr unter beträchtlicher Mithilfe der Alliierten gerade erst überwundenes selbstverursachtes tausendjähriges Trauma gleichsam aktiv zu vergessen, vermutlich zwangsläufig allerseits auf Desinteresse und Verständnislosigkeit stoßen.

Immer und seit je ist es mir doch nur darum gegangen, von den andern, die keine Juden waren, so behandelt zu werden, als ob auch ich keiner wäre, so behandelt zu werden wie ein normaler Mensch. Nämlich: wie nach ihren Begriffen normaler Mensch. Das war der kleine Denkfehler, der mir dabei unterlief: daß ich mich immer nach ihren Begriffen gerichtet habe. Es ist mir nie der Gedanke gekommen, daß mit diesen ihren Begriffen etwas nicht stimmen könnte. Ich habe mein Judentum immer als Defekt akzeptiert, und die es mich fühlen ließen, immer als Ankläger. Ich habe nie zu vermuten gewagt, daß da vielleicht die Ankläger selbst an einem Defekt litten.

Torbergs unglückseliger Protagonist Otto Maier, ein im Zuge der nationalsozialistischen Judengesetze zunehmend beschäftigungsloser jüdischer Jazzpianist aus dem nachtaktiven Milieu der Wiener Boheme, wird anlässlich der Ereignisse des 9. und 10. November 1938, der sogenannten Reichspogromnacht, gemeinsam mit seinem Vater verhaftet und stundenlang mit hunderten anderer Juden unter unzumutbaren Zuständen von den Behörden festgehalten. Im Verlauf der amtlichen Erfassung der verhafteten Juden werden die beiden schließlich voneinander getrennt; während Ottos Vater, ein hochdekorierter ehemaliger Militärarzt, nach Dachau deportiert wird, darf er selbst nach dem zufälligen Eingreifen seines mittlerweile in der Gestapo zu hohem Einfluss gekommenen ehemaligen Klassenkameraden Franz Macholdt unbehelligt nach Hause gehen.

Ich hatte bis zu diesem Augenblick an meinen Vater gar nicht gedacht, genau so wenig, wie ich es zunächst am 12. März getan hatte. Jetzt dachte ich an ihn, und genau so selbstverständlich wie damals: ich dachte an ihn als den „einzigen Menschen“. Und eine leise Zärtlichkeit mischte sich in meine Gedanken, eine traurige, bedauernde Zärtlichkeit [...].

Macholdt lässt Otto allerdings bereits wenige Tage später unter beklemmend inszenierten Umständen in sein Büro rufen, um ihm nach einer zynischen Vergegenwärtigung seiner vollkommenen Abhängigkeit einen Pakt faustischen Ausmaßes anzubieten: im Tausch gegen regelmäßige Spitzeldienste im Rotlichtmenü und gezielte Denunziationen stellt er ihm, allerdings nur auf ausgesprochen vage Art und Weise, eine perspektivische Entlassung seines gesundheitlich angeschlagenem Vater aus dem Konzentrationslager in Aussicht. Da Otto allen Grund hat, ernsthaft um dessen Leben zu fürchten, willigt er nach kurzer Bedenkzeit in den schmutzigen Handel ein, da er glaubt, Macholdt mit einigen unklaren Hinweisen dauerhaft beschwichtigen zu können und so vordergründig alle Fäden zur Erreichung seines eigenen einzigen Ziels in der Hand zu behalten.

Damals, ganz am Anfang, phantasierte ich mich nämlich noch in die Rolle eines geheimen Rächers der Verfolgten hinein und erging mich überhaupt in allerlei kindischen Vorstellungen. Eine davon verstieg sich so weit, daß ich, wenn mir in den nächsten Tagen ein großer Coup gelänge, meinen Vater vielleicht noch rechtzeitig herausbekommen könnte, um mit ihm zusammen dem Orchester nach Ungarn nachzureisen.

Als sich sein ehemaliger Mitschüler schon bald nicht mehr mit Ottos nebulösen Tipps abspeisen lässt, beginnt dieser „notgedrungen“, wie er seine Spitzeleien vor sich selbst rechtzufertigen versucht, und unter beträchtlichen Gewissensqualen zunächst weitläufig Bekannte, später sogar langjährige Freunde und Musikerkollegen bei den nationalsozialistischen Behörden zu denunzieren. Auf diese Weise verliert er langsam und unausweichlich jeglichen Halt in seiner Clique wie auch in sich selbst. Als er durch Zufall erfährt, dass sein kränklicher Vater bereits kurze Zeit nach seiner Deportation verstorben ist, fasst er einen nahezu undurchführbar scheinenden Racheplan als schwindelerregenden moralischen Drahtseilakt zwischen Mut und Leichtsinn, der ihn noch weiter an die äußerste Grenze der Selbstverleugnung bringt – und weit darüber hinaus.

Friedrich Torberg. Foto
© Ch. Brandstätter Verlag

Mit seinem atemlos zu lesenden, nachhaltig verstörenden Roman, dessen Titel eine deutlich erkennbare, in höchstem Maße assoziationsreiche Anspielung auf das biblische Sohnesopfer beinhaltet, findet Friedrich Torberg angesichts der deprimierenden Schlusspointe nur geringen Trost für den verstört zurückbleibenden Leser, den dieser scheinbar allzu leicht, wie sich schließlich herausstellt, überlesen hat und deshalb am Ende systematisch zurückblättern muss, in der unbewussten fieberhaften Hoffnung, die entstandene Leere wieder mit Sinn füllen zu können. Den verzehrenden Grundkonflikt seines unglücklichen Protagonisten als bittere Agentenfarce inszeniert der Autor ähnlich ausweglos wie seine geistigen Verwandten Graham Greene und John Le Carré, mit denen er der entschiedenen Meinung ist, dass jeder, der sich auf dieses unmoralische Geschäft einlässt, am Ende nur verlieren kann. „Hier bin ich, mein Vater“ ist mit seiner angesichts seines frühen Entstehungszeitpunkts außergewöhnlich hellsichtigen, scharfsinnigen und radikalen politischen Analyse möglicherweise eine noch bedeutendere Wiederentdeckung aus dem nahezu vergessenen Werk Friedrich Torbergs als dessen allerdings zugänglichere Novelle „Mein ist die Rache“.

„Hier bin ich, mein Vater“, mit einem Nachwort von David Axmann, erschienen bei Milena, 301, Seiten, € 24,90

Dienstag, 25. November 2014

In eigener Sache

Liebe Leser und Freunde des Psychosemitischen Buchblogs,

aus beruflichen Gründen – der Liquidierung der Unternehmung, für die ich in den vergangenen elf Jahren hauptberuflich tätig gewesen bin bis Ende Februar sowie kurzfristig notwendig gewordener Projekte der Literaturvermittlung und des Lektorats – kann ich leider bis auf Weiteres keine Rezensionen in der gewohnt ausführlichen Form an diesem Ort bereitstellen.

In kürzerer Form als ich es mir eigentlich wünsche möchte ich an dieser Stelle jedoch wenigstens auf jene Bücher hinweisen, die ich in letzter Zeit sehr gerne gelesen habe und für ausführliche Besprechungen sowie als explizite Leseempfehlungen fest vorgesehen hatte.

Für das große Interesse und die freundliche Unterstützung bedanke ich mich sehr herzlich!

Florian Hunger





„Wolfshunger“ von Philip Kerr


Mit jedem neuen Roman aus Philip Kerrs international zu Recht gefeierter Krimiserie Berlin Noir um den moralisch unbestechlichen und regimekritischen deutschen Ermittler Bernhard Gunther wird umso deutlicher, wie virtuos und ehrgeizig der schottische Spannungsautor sein höchst anerkennenswertes Ziel weiterverfolgt, ein differenziertes literarisches Gesamtbild von Deutschland während der Nazi-Herrschaft zu erschaffen, das nicht nur der historischen Realität, wie wir sie aus zahlreichen Zeitzeugenberichten und geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitungen vermittelt bekommen haben, auf vorbildliche Weise zu entsprechen scheint, sondern das dem Leser von heute auch in der Person seines unnachahmlichen Protagonisten, des psychisch gebrochenen und durch die von ihm unfreiwillig bezeugten Verbrechen traumatisierten ehemaligen Kriminalkommissars im Rang eines Hauptmanns, eine wirklichkeitsnahe kritisch-objektive Beurteilung des Lebens unter nationalsozialistischer Diktatur sowie der kollektiven Verbrechen Nazi-Deutschlands aus individueller Sicht, gleichsam von innen heraus zu vermitteln vermag, die im Hinblick auf ein natürliches Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden des Lesers in hohem Maße moralisch prägend werden kann.



Bernie Gunthers mittlerweile neunter, nicht in chronologischer Reihenfolge veröffentlichter Fall Mit dem Titel „Wolfshunger“ führt ihn im beginnenden Frühling des bitteren Kriegsjahrs 1943 in den Wald von Katyn bei Smolensk (heute Ukraine), wo der NKWD nach der sowjetischen Annexion Ostpolens infolge des Hitler-Stalin-Pakts drei Jahre zuvor ein Massaker an mehreren tausend im Verlauf der Kriegshandlungen gefangen genommenen polnischen Offizieren verübt hatte, das nun von der Wehrmachtsuntersuchungsstelle für Kriegsverbrechen aufgearbeitet und von Joseph Goebbels und seinem Propagandaministerium durch bewusste Instrumentalisierung einer internationalen Expertenkommission als Kriegsverbrechen der Alliierten propagandistisch ausgeschlachtet werden soll. Vor Ort begegnet Bernie erneut einer schwer zu ertragenden Mischung aus roher, staatlich sanktionierter Gewalt, ignoranten militärischen Gehorsams und einem weit verzweigten Netzwerk von brutaler, amoralischer Machtausübung und Korruption. Nach dem unbegreiflichen blutigen Mord an zwei zunächst vollkommen harmlos scheinenden Wehrmachtsfunkern sowie einem russischen Arzt und seiner Tochter, mit denen Gunther allesamt in persönlichem Kontakt stand, nimmt er in gewohnt leichtsinniger Art auf eigene Faust inoffizielle Ermittlungen auf, die ihn schon bald in höchste Lebensgefahr bringen und nur wenig später sogar zu einem kaltblütigen Mord an einem unschuldigen Kameraden zwingen. Er verliert erneut auf denkbar unglückliche Art und Weise die Liebe einer schönen Frau und räsonniert aus heutiger Sicht ungewohnt scharfsinnig und erfrischend über die merkwürdig zauderhafte, im kollektiven Gedenken der Bundesrepublik unverhältnismäßig überhöhte Verschwörung adliger deutscher Offiziere gegen Hitler, die ein Jahr später im vorhersehbaren Fiasko des 20. Juli münden sollte.

Eins muss ich Ihnen lassen. Sie Genie haben dreimal in ebenso vielen Wochen versucht, Hitler umzubringen, und jedes Mal ging es schief. Man sollte doch meinen, dass eine Gruppe ranghoher Offiziere weiß, wie man einen Mann tötet. Sie sollten darin gut sein, oder nicht? Während des Großen Krieges hatte jedenfalls keiner von Ihnen Probleme, Milionen Menschen abzuschlachten. Aber es scheint Ihnen allen unmöglich, Hitler umzubringen. Als nächstes erzählen Sie mir vielleicht noch, Sie wollen silberne Kugeln benutzen, um den Scheißkerl aus der Welt zu schaffen.

Auch im neunten Band seiner originellen Buchreihe um Bernie Gunther ist Philip Kerr erneut eine auch intellektuell fesselnde Mischung aus kriminalistischer Spannungsliteratur, zuverlässiger historischer Recherche und glänzender politischer Analyse auf allerhöchstem Niveau gelungen. Anders als die meisten anderen Thriller und Kriminalromane unserer Zeit, die man nach der Lektüre ohne zu zögern leihweise weitergibt, verschenkt oder irgendwo liegen lässt, stellt man die Berlin-Noir-Romane in die erste Reihe im Bücherregal zu den anderen Bänden.

„Wolfshunger“, aus dem Englischen von Juliane Pahnke, erschienen bei Wunderlich, 543 Seiten, € 22,95



„Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“ 

von Diane Setterfield


Nachdem der zehnjährige William Bellman unter dem Beifall seiner gleichaltrigen Freunde mit einem perfekten, unglaublich scheinenden Schuss aus seiner selbstgebauten Zwille an einem denkwürdigen Spätsommertag eine in weiter Entfernung auf einem Ast sitzende Krähe getötet hat, bekommt er noch am selben Abend einen heftigen Fieberanfall, der ihn für die Dauer einer Woche besinnungslos ans Bett fesselt. Auf dem Nachhauseweg hatte er noch unter dem Baum seines fragwürdigen Triumphs plötzlich einen schwarz gekleideten Jungen stehen sehen, der ihm unverwandt hinterherblickte, bis er im Haus verschwunden war. 



Als William das Fieber glücklich überstanden hat, beginnt seine denkwürdige Karriere als völlig unbeschwert scheinendes sprichwörtliches Glückskind, dem im viktorianischen England offensichtlich alles im Leben gelingt: nicht nur fliegen ihm mühelos sämtliche Herzen seiner Mitmenschen zu, insbesondere der Frauen, auch im Beruf gelingt ihm Dank seines Fleißes und seines Einfühlungsvermögens nahezu alles. Nur wenige Jahre nachdem er als Lehrling in die Weberei seines Onkels eingetreten ist, hat er sich dort schon so unersetzlich gemacht, dass es nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, bis er die Leitung des im Zuge der Industrialisierung aufstrebenden Betriebs übernehmen wird. Doch da beginnen in seinem persönlichen Umfeld die plötzlichen Todesfälle: seine geliebte Mutter, sein Onkel, sein Cousin. Und während der Beerdigungen fällt William immer wieder ein schwarz gekleideter Fremder auf, der ihn mit stechendem Blick aus der Ferne fixiert und ihn in zunehmendem Maße beunruhigt, doch ihm immer dann ausweicht, wenn er Mut gefasst hat, ihn zur Rede zu stellen. Allein in der Arbeit findet der aufstrebende Jungunternehmer Trost und Zuflucht, die Weberei floriert und kann sich Dank seiner fabelhaften Voraussicht gut am Markt positionieren. Er heiratet die Frau seines Herzens und sie bekommen mit den Jahren vier Kinder.

Doch auf dem Höhepunkt seines privaten und beruflichen Erfolges, bricht eine Typhusepidemie aus, der nacheinander seine jüngste Tochter, seine beiden Söhne und seine Frau zum Opfer fallen. Als auch die älteste Tochter erkrankt, betrinkt sich William bis zur Besinnungslosigkeit in der Dorfkneipe. Auf seinem nächtlichen Heimweg beobachtet er, wie der mysteriöse Mann in Schwarz den Friedhof betritt und folgt ihm. Über einer Reihe von bereits ausgehobenen Gräbern kommt es zu einem denkwürdigen Handschlag zwischen den beiden, der alles ändert. Am nächsten Morgen zeigt Williams Tochter überraschend Anzeichen der Besserung und der Unternehmer stürzt sich mit voller Energie in ein makabres Großprojekt, dem größten Kaufhaus für Trauerwaren, das es in London jemals gegeben hat.

"Was für ein Leben ich hatte!", sagte er staunend zu Black. "Ich könnte ein halbes Leben damit zubringen, einfach nur daran zu denken!"
"Erinner dich!"
Er erinnerte sich, Szene für Szene, jeden Augenblick, Glück und Kummer, Freude, Liebe und Trauer quollen aus dem Winkel hervor, in dem er sie eingemauert hatte, ein Strom aus Tagen, Stunden und Sekunden, der nicht enden wollte.
Mir ist kalt, merkte er und dachte augenblicklich daran, wie er vor vielen Jahren, in Decken gehüllt, am Kaminfeuer eines kleinen Cottage gezittert und das Gewicht seiner Tochter auf dem Schoß gespürt hatte.

Diane Setterfields ebenso virtuoser wie kenntnisreicher historischer Roman variiert das Thema der moralischen Einsicht und Umkehr, das wir aus Charles Dickens' berühmter Weihnachtsgeschichte kennen, auf höchst originelle und lebensbejahende Art und Weise. Dabei gelingt es ihr absolut meisterhaft, das verdrängte Kindheitstrauma ihres unglückseligen Protagonisten so in die Handlung und die geglückte Konstruktion ihres atemlos zu lesenden Buches einzubetten, dass in der Raben- und Vergänglichkeitssymbolik zwar deutliche Anklänge ans Phantastische bestehen bleiben, aber ohne dass diese nicht auch nüchtern und rational im Sinne einer psychologischen Umschichtung innerer Erlebnisse deutbar bleiben. „Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“ ist damit eine überaus dankbare, wenn nicht die ideale Lektüre für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr.

„Aufstiegund Fall des Wollspinners William Bellman“, aus dem Englischen von Anke und Eberhard Kreutzer, erschienen bei Blessing, 400 Seiten, €19,99