Jerusalem

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Dienstag, 19. März 2013

„Kleine Töne, meine Töne“ von Virgilio Giotti

Mit dem neuerlichen, von ihren Bewohnern lang ersehnten organischen Zusammenwachsen von über lange Zeit durch willkürliche Grenzziehung voneinander isolierten geschichtlich-homogenen Regionen im Herzen Europas hat seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa auch die von ihrer prächtigen habsburgischen Architektur nostalgisch geschmückte Stadt Triest an der norditalienischen Adriaküste im Dreiländereck mit Slowenien und Kroatien wieder einen wunderbaren wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung genommen, der ihrer historischen Bedeutung als wichtigste Hafenstadt Österreich-Ungarns sowie als Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens von so bedeutenden Literaten wie Italo Svevo, Umberto Saba, den Brüdern James und Stanislaus Joyce oder Claudio Magris vollkommen gerecht zu werden scheint.

Der ebenfalls in Triest lebende deutsche Schriftsteller, Verleger und Mitbegründer des Berlin-Verlags Veit Heinichen hat seine schwungvoll-florierende Wahlheimat zum Schauplatz einer populären Reihe von Kriminalromanen um den umsichtigen Commissario Proteo Laurenti gemacht, die auch in ihrer über Jahre fortgeführten Verfilmungen durch die ARD ein munter-vielschichtiges Porträt dieser faszinierenden multikulturellen Metropole zeichnet.

Die wunderbarste, möglicherweise bedeutendste, vor allem aber aufgrund ihrer universellen Aussagekraft mit Sicherheit nachhaltigste literarische Entdeckung, die im Zuge des kulturellen Aufschwungs von Triest für den deutschen Leser dringend noch zu machen war, darf sich der kleine Klagenfurter Drava-Verlag auf seine Fahnen schreiben, der für seine besondere Zielsetzung, vor allem Literatur der slowenischen Minderheit in Kärnten sowie der Nachbarregionen ein qualifiziertes Forum zu bieten, eine überaus passende Namenspatin mit dem diese Länder durchströmenden Fluss Drau/Drava gefunden hat.



Denn der nun erstmals in deutscher Sprache und für sein Werk repräsentativer Auswahl vorgestellte Triestiner Dichter und Lyriker Virgilio Giotti (1885-1957) war eine absolute Ausnahmeerscheinung in der zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts blühenden Literatur- und Kunstszene seiner Heimatstadt. Dort als Virgilio Schönbeck geboren, floh der Sohn eines Österreichers und einer Italienerin im Jahr 1907 nach Florenz, um dem österreichischen Militärdienst zu entgehen und kehrte erst zwölf Jahre später mit seiner russischen Frau und drei Kindern nach Triest zurück.

Dort nahm er als gern gesehener Gast aktiv teil an den literarischen Zirkeln um Italo Svevo, Scipio Slapater, Giorgio Voghera, Bobi Bazlen, Biagio Marin, Giani Stuparich und Umberto Saba, während er gleichzeitig seinen kargen Lebensunterhalt als Handelsvertreter für Spielzeug, Zeitungs- und Buchhändler sowie zuletzt als Krankenhausangestellter verdienen musste.

Ich bin hinaus auf den Balkon.
Nur dort bin ich jetzt nicht
mehr der, der ich da drinnen
war: der Papa, der Gatte,
der Angestellte und der Dichter.

Im Finstern singen Grillen,
und überall sind Sterne.
Ein Lüftchen aus dem Osten
in dieser Sommernacht
weht vorüber wie ein frischer Hauch.

Oh, wenn der Balkon jäh
niederbrechen würde! Ein Flug,
ein Aufprall. Dort mitten auf dem Gras
zu sterben, ich mit mir allein,
in dieser Sommernacht.

In den scheinbar engen Grenzen von bürgerlichem Beruf, Familie und literarischen Ambitionen schuf Giotti ein außerordentlich reiches lyrisches Werk, das nicht nur seine Zeitgenossen begeisterte, sondern auch etwa Pier Paolo Pasolini in einem Essay über dessen Werk zu einem überraschend eindeutigen und bestimmten Urteil bewog, dem man sich nach der Lektüre nur weniger seiner Verse ganz ohne Vorbehalt anschließen muss: er kenne nirgendwo in der italienischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts eine Dimension des Schmerzes, die der vergleichbar wäre, die aus den Appunti inutili des alten Giotti und aus so vielen seiner Gedichte spreche.

Giotti hat wie kein anderer bedeutender Lyriker begriffen, dass Glück aus einzelnen Momenten besteht, die immer wieder unwiderruflich vorübergehen müssen:

So wie unsere Liebe,
die eigentlich ein Nichts nur ist,
ein blasses, doch ein leuchtend, brennend
blasses, und ein Wohlgeruch und eine Hoffnung,
die mein Herz erfüllt, wenn ich sie spüre:
ein Zuhause von dir und mir,
wir breiten miteinander, ich und du,
das Tischtuch auf dem Tisch auf,
und einer, der sich auf die Spitzen
seiner kleinen Füße stellt
und sich anstrengt zu erspähen, was wir vorbereiten.

Giottis unaufdringliche Sensibilität eines still-vertrauten intimen Beobachters sowie seine wahrhaftige Gefühlstiefe, die es ihm auf immer wieder neue Art und Weise erlauben, tief in den scheinbar alltäglichen Augenblick einzutauchen, das darin Verborgene ans Licht zu holen und in Poesie zu verwandeln, sind ebenso einzigartig wie unvergesslich. Es sind die wesentlichen „kleinen“ Dinge des Lebens, die er immer wieder energisch benennt, menschliche Beziehungen, Grundbedürfnisse, die Natur mit all ihren Erscheinungen, aber auch die städtische Landschaft seiner pittoresken Heimatstadt Triest sowie auf ganz unscheinbare Art auch wesentliche Theorien der bildenden Kunst.

Was bisher maßgeblich verhinderte, dass Giotti auch über die Grenzen Italiens hinaus bekannt werden konnte, war die für sein Werk höchst charakteristische Tatsache, dass der überwiegende Teil davon im Triestiner Dialekt verfasst ist. Dabei wagte der Dichter es erstmals, die heimische Mundart nicht zum Schauplatz des Komischen zu machen, sondern auf deren Grundlage eine ganz und gar individuelle und höchst originäre Art hochsprachlicher Variante zu erschaffen, mit der er auf noch unverwechselbarere Art und Weise seine Gedanken und Gefühle auszudrücken vermochte.

Zwar beklagt der kongeniale Übersetzer Hans Raimund in seinem kenntnisreichen Vorwort, dass er wegen des offensichtlichen Fehlens eines in seiner spezifischen Mentalität gleichwertigen deutschsprachigen Idioms Giottis Verse nicht in ihrer ganzen sprachlichen Vollkommenheit und charakteristischen Musikalität habe wiedergeben können, so bleibt dennoch zu bemerken, dass auch in der vorliegenden Übersetzung vorbildlich deutlich wird, wie sehr gute Lyrik jenseits ihrer sprachlichen Form immer auch eine gleichsam unsichtbare poetische Gestalt zu entwerfen vermag, die sich aus ihrer reinen Bedeutungsebene ergibt, wie sie vom Dichter gedanklich vorgebracht wird.

Die anhaltende Wehmut über die Flüchtigkeit des Glücks durchzieht alle seiner Verse mit einer durchaus heiteren Melancholie, einer umfassenden Annahme des Leids, das sich aus den Zeitumständen ebenso ergibt wie aus den zahlreichen persönlichen Verlusten, die Giotti im Laufe seines Lebens zu beklagen hatte, wie er nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch in den ebenfalls im vorliegenden Band enthaltenen, erst posthum erschienenen Tagebuchaufzeichnungen seiner an Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ erinnernden „Unnötigen Notizen“ bekräftigt:

Wie viele Tote in meinem Leben! Es ist mir früher nie eingefallen, darüber nachzudenken. Als ich ein Bub war, war die Großmutter noch jung. Dann mein Vater, dann, eine nach der anderen, meine drei Schwestern, dann ein Freund, Bolaffio, dann eine liebe Freundin, dann meine Mutter, dann ein anderer Freund, Romannelis, dann meine Söhne.

Mit der um drei Jahre verspäteten Todesnachricht des ersten Sohnes, Paolo, der wie sein Bruder Franco im Rahmen von Hitlers unseligem Feldzug gegen die Humanität, ja das Leben selbst in der Heimat ihrer Mutter gefallen war, setzen am 1. Februar 1946 seine denkwürdigen hochliterarisch-privaten Notizen ein:

Diese [...] sollten mir helfen weiterzuleben. Sie sollten mir den Trost eines Gesprächs zwischen mir und mir geben, über Themen, die nicht Stoff von Gesprächen sein können zwischen mir und anderen.

Es gibt vermutlich keinen anderen bedeutenden Dichter des Zwanzigsten Jahrhunderts, der in all seinen Versen bereits in den Jahren seiner Jugend in einem so beträchtlichen Maße den unvermeidlichen eigenen Tod umarmt und willkommen geheißen hat wie Virgilio Giotti, ohne an dieser wesentlichen Erkenntnis zu verzweifeln und sich dem störrischen Zauber des Lebens zu entziehen.

Schatten meiner Söhne,
bevor auch ich verschwinde,
bleiben eine Weile wir
noch ein Mal zusammen,
plaudern wir und lachen wir.

Wenn ihr geweint habt, dann weint
jetzt nicht mehr. Wir trocknen
alle uns die Augen. Geht,
seid lieb zu eurer Mutter.
Weinen nützt nichts.

So viele, viele sind gestorben;
und Väter, Mütter, Kinder
haben geweint und weinen.
Das passiert auf dieser Welt:
es passiert, ist immer schon passiert.

Wenn ich euch nicht alles geben
konnte, was ich tief im Herzen
so sehr wünschte, vergebt mir!
Für das Gute, welches ich von euch
gehabt hab, dafür danke ich euch

jetzt, so kommt, damit wir
noch ein Mal eine Weile
beisammen sind, wie
in unsren schönen Jahren
miteinander plaudern, lachen.

Dieser äußerst verdienstvolle erste Auswahlband in deutscher Sprache der elementar-eigenständigen, urtümlichen, unvergesslichen Lyrik Virgilio Giottis gehört zu jenen überaus seltenen, kostbaren Generationen-Lieblingsbüchern, die man unbedingt immer bei sich tragen möchte, weil man sich seiner universeller Aussage und tief empfundenen Menschlichkeit immer und immer wieder versichern will.

„Kleine Töne, meine Töne“ aus dem Triestiner Italienisch von Hans Raimund, erschienen bei Drava, 166 Seiten, € 19,80

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